Als der liebe Gott nach Wentrup kam
oder
Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt....

Die Sonne schien ungewöhnlich warm an diesem späten Vormittag des Junitages, als Joachim Medes unschlüssig im Schatten der Linde vor seinem Elternhaus stand und überlegte, ob er erst seinen Wagen waschen sollte, was ihm am meisten am Herzen lag, oder ob er erst das Unkraut aus der Blumenrabatte jäten sollte, was seiner Mutter, die am frühen Morgen mit dem Fahrrad in die Kreisstadt gefahren war um einige Besorgungen zu machen, am meisten am Herzen lag.

Aber bevor er sich entscheiden konnte, sah er, dass aus der Biegung der Dorfstraße eine Radfahrerin mit nicht geringem Tempo auftauchte, und als sie näher kam, stellte er zu seinem höchsten Erstaunen fest, dass es seine Mutter, Minna Medes, Minchen, wie sie von der Nachbarschaft genannt wurde, war.
Er hatte sie noch nie so schnell fahren sehen. Sonst fuhr sie eher behäbig und vorsichtig mit geringem Tempo, eben ihrem Alter angemessen, schließlich würde sie in einigen Monaten 60 Jahre alt werden.
Jetzt aber drosselte sie ihr Tempo erst kurz vor dem Gartentor, bremste scharf, dass die Bremsen quietschten, sprang ungewöhnlich behende vom Rad, das sie, was sonst gar nicht ihre Art war, unachtsam in die Gartenhecke drückte und stürmte auf ihren Sohn Joachim zu.

Dieser hatte schon bei ihrem rasanten Absteigemanöver bemerkt, dass seine Mutter sehr aufgeregt sein musste, was ihm die roten Flecken an ihrem Hals verrieten, die sich immer bei besonderer Aufregung zeigten.
"Joachim, Joachim, es ist unglaublich" begann sie zu reden bevor sie ihn noch erreicht hatte, brach aber ihre Rede ab, da sie erst einmal Luft holen musste, die ihr ob ihrer vorigen Anstrengung auf dem Rade wegblieb. Als sie zweimal tief durchgeatmet hatte, begann sie von neuem: "Joachim, Junge, du wirst es nicht glauben," und abermals versagte ihre Stimme wegen Luftmangels. Joachim, der wusste, dass seine Mutter sich schnell auch über geringe Anlässe erregte, antwortete gelassen: "Mama," - er nannte seine Mutter immer Mama, wobei die Betonung bewusst auf dem zweiten 'a' lag, das erschien ihm erwachsener "Mama", erklärte er, "bevor ich etwas nicht glauben kann, müsste ich erst einmal wissen, was es denn zu glauben gibt, also, Mama, ganz ruhig!"

Minchen Medes hatte inzwischen genug Luft schöpfen können und nun brach es aus ihr heraus: "Stell dir vor, wie ich am Feuerwehrhaus vorbeifahre, sitzt dort auf der kleinen Mauer ein Mann. Was sage ich Mann, ein Penner, ein Obdachloser. Vielleicht gut 50 Jahre alt, seine angegrauten, ungepflegten langen Haare quollen unter einem alten Hut hervor, einen Vollbart trägt er und trotz der Hitze heute hat er noch einen dicken, abgeschabten Mantel an und seine Habseligkeiten hat er offensichtlich in zwei oder drei Plastiktüten bei sich."
Joachim, der ihr beschwichtigend ins Wort fallen wollte, kam nicht zum Zuge, seine Mutter hatte nochmals einen kurzen aber tiefen Atemzug getan und fuhr fort.

"Das hat es doch seit Menschengedenken in Wentrup nicht gegeben, ein Penner in unserem Ort! Man ist doch seines Lebens nicht mehr sicher, das ist der Anfang vom Ende. Bestohlen wird man werden. Sorge dafür, Joachim, dass heute Abend alles sorgfältig verschlossen wird! Es ist nicht zu glauben," beendete sie ihren Redeschwall.
"Aber Mama, warum erregst du dich so," kam jetzt Joachim endlich zu Wort. "Sicherlich hat es das noch nicht gegeben in Wentrup, ein Obdachloser bei uns! Aber was soll das schon, diese Leute sind nicht gefährlich, die tun niemanden etwas zuleibe, nicht einmal stehlen tun sie in der Regel, betteln, ja damit muss man rechnen. Aber im übrigen, das ist sicher solch ein Stadtstreicher, ein Tippelbruder, ein Durchreisender. Er wird in die Kreisstadt wollen und morgen wieder verschwunden sein, also reg' dich nicht auf, Mama."
"Ein Durchreisender?" fragte Minchen Medes spöttisch zurück, "das glaubst du doch selber nicht. Du weißt genau, dass sich nach Wentrup niemand verirrt, der zur Kreisstadt will, nicht einmal ein Auto, viel weniger noch ein Fußgänger."

Joachim wusste, dass seine Mutter Recht hatte. Denn Wentrup ist in mancher Beziehung ein besonderer Ort. Das ganze Dorf besteht nur aus sieben Wohnhäusern und dem Feuerwehrhaus. Die Dorfstraße ist eine Sackgasse, wer auf ihr hereinkommt, kann auch nur auf ihr wieder hinaus. Darum gibt es keinen Durchgangsverkehr. Und da diese Tatsache an der Einfahrt zur Ortschaft an der Landstraße die zur Kreisstadt führt, ausgeschildert ist, verirrt sich so schnell niemand nach Wentrup, besonders kein Fußgänger, da das Dorf etwa drei Kilometer von der Landstraße entfernt liegt.
"Nein, Nein" beschoss Minchen Medes ihr Ausführungen, "da steckt etwas ganz anderes dahinter, du wirst sehen!" orakelte sie.
Damit ging sie, ohne sich um ihr Fahrrad und die sich daran befindliche Tasche mit ihren Besorgungen zu kümmern, ins Haus.
"Mama, Mama," murmelte Joachim kopfschüttelnd vor sich hin und holte das Rad auf den Hof. Seit vor 2 Jahren sein Vater gestorben war, hatte er die Verantwortung für das Haus übernommen. Als er das Rad an die Hausmauer lehnte, konnte er durch das Wohnzimmerfenster sehen und stellte fest, dass seine Mutter den Telefonhörer in der einen Hand hatte und mit der anderen heftig gestikulierte. Na, dachte Joachim bei sich, in einer Stunde wird ganz Wentrup über das Ereignis informiert sein, was offensichtlich der Fall war, denn nach dem Mittagessen konnte man bemerken, dass sich aus jedem der sechs Häuser mindestens eine Person in Richtung Feuerwehrhaus bewegte und nach nicht all zu langer Zeit zurückkehrte. Man war informiert.

An dieser Stelle müssen aber einige Erklärungen eingeschoben werden, die wichtig sind, um das nachfolgende Geschehen richtig verstehen zu können.

Auf die Besonderheit der Lage des Ortes Wentrup wurde schon hingewiesen. Wenn man in den Ort hineinkommt, liegt linker Hand das Feuerwehrhaus. Nachdem vor etwa zehn Jahren drei Häuser in Wentrup abgebrannt waren, hatte man eine freiwillige Feuerwehr gebildet, zusammen mit dem Nachbarort Stierup, alle Wentruper Männer gehören dazu. 
Danach folgt in geringem Abstand das Haus von Fine Hinrichsen, einer Witwe, die mit ihrem verheirateten Sohn im Hause lebt. Der Sohn arbeitet, wie schon der Vater, auf dem benachbarten Hof der Jahannsens, die einen beachtlichen Bauernhof betreiben zusammen mit 2 Söhnen, wovon einer verheiratet ist. Ein anderer Sohn hatte in die Kreisstadt geheiratet. 

Bei Johannsens macht die Dorfstraße einen Knick nach rechts und verläuft dann zu einem Kreis, so dass sich ein Rundell bildet, auf dem man mit den Fahrzeugen wenden kann und in dessen Mitte sich ein gewaltiger, uralter Kastanienbaum erhebt, der mit seinem Schatten die ganze Straße bedeckt. Kurz hinter der Kurve steht das Haus der Medes auf der rechten Seite und die restlichen vier Häuser stehen um das Rundell. Neben Medes wohnen die Rowedders, dann folgen Peter und Irmchen Petersen, Dams und Iversen, die schon wieder neben Johannsen's wohnen und auch auf deren Hof arbeiten. Damit schließt sich der Kreis. Durch die besondere Lage war es fast allen möglich, jedes Haus des anderen zu sehen.

Aber noch etwas anderes zeichnet diesen kleinen Ort aus.

Vor etlichen Jahren war ein Wanderprediger der Mennoniten ins Dorf gekommen, einer christlichen Glaubensgemeinschaft, die von einem gewissen Menno Simons gegründet wurde und die im pietistischen Sinne gläubig ist, fromm, ehrlich und gewissenhaft, manchmal allerdings auch etwas eng und gesetzlich. Die Wentruper waren damals Lutheraner, evangelische Christen, aber, wenn man ehrlich sein will muss man sagen, nur dem Namen nach. Die nächste Kirche war in Wendeby, einem fast 8 Kilometer entfernt gelegenen Nachbarort. Und da der Pastor sich nicht um die Wentruper kümmerte, kümmerten sie sich auch nicht um die Kirche. 
Der Wanderprediger besuchte die einzelnen Familien, war rührig und hatte ein gutes Gotteswort und drängte die lauen Wentruper Christen, ernst zu machen und sich endlich zu bekehren.

Fine Hinrichsen, damals gerade zwanzig Jahre alt und ihre inzwischen verstorbenen Eltern waren die ersten, die sich neu zum Glauben bekannten. Als dann sogar die Johannsens der neuen Konfession beitraten, die als großer Bauer immer beispielgebend waren, bekehrten sich auch alle anderen Wentruper, bis auf die Petersens. Peter Petersen hatte zwar zu allen anderen Wentruper guten Kontakt und man achtete ihn, er legte aber immer wert darauf zu betonen, dass er ein guter Lutheraner sei und nicht schlechter als die Mennoniten, obwohl er nie einen Gottesdienst besuchte. 
Als der Prediger die Wentruper verließ, verstanden sie sich als eigenständige Gemeinde. Im großen Hof der Johannsens fand sich ein kleines Nebengebäude als Versammlungsraum, wo sich die Wentruper Christen sonntäglich trafen. Bis auf den heutigen Tag ist der alte Johannsen, fast achtzig Jahre alt, der akzeptierte Älteste, der die Gottesdienste meist leitet und aus einem alten Predigtbuch die Sonntagspredigt vorliest. Das Versammlungshaus sieht auch noch fast genau so aus, wie sie es vor Jahren hergerichtet hatten. Über der Eingangstüre befindet sich ein Schild mit alter, verschnörkelter Schrift auf dem zu lesen ist: "Christliche Versammlung." Innen ist alles ein bisschen alt, rundherum im Saal befindet sich ein Sockel, in Ölfarbe gestrichen, alte Stühle, die nur einmal eine weichere Auflage bekommen hatten und alles wirkt ein bisschen angestaubt. Aber sie, die Wentruper, fühlen sich da wohl. 
Die Frauen treffen sich in unregelmäßigen Abständen zum Gebet und Kaffeetrinken und natürlich zum Klönen. Auch darin hat sich in den 50 Jahren kaum etwas verändert. Die nachwachsenden Kinder waren fast alle wie selbstverständlich zu der Gemeinde gekommen. So war Wentrup nicht nur eine Dorfgemeinschaft, sondern auch eine christliche Gemeinde. Man kann nicht behaupten, dass sich hier ein besonderes religiöses Leben zeigte, aber ihren Traditionen waren sie treu geblieben. Klar, dass jeder jeden gut kannte und man viel gemeinsam tat. So ist es auch heute noch. Sogar Irmchen Petersen nimmt an den Treffen der Frauen teil, besucht zu den Festtagen auch die Gottesdienste und wird von allen akzeptiert, wenn sie auch als einzige kein Gemeindeglied ist und ihr Mann, Peter Petersen, wie erwähnt, sich bewusst als Lutheraner bezeichnet.

Einmal im Jahr kommt der "Bruder" - so nennen ihn die Wentruper - ein Beauftragter der Mennoniten Vereinigung, und ist meist recht zufrieden, da die Wentruper gute Gemeinschaft halten.
So ist es klar, dass Minchen Medes, die nach dem Tode ihres Mannes vor zwei Jahren mit ihrem unverheirateten Sohn Joachim zusammen im Hause lebt, nicht nur alle Wentruper Frauen gut kennt, sondern sich als Glaubensschwester auch verpflichtet fühlte, die anderen zu informieren und auch zu warnen.
Das Ereignis, das, wie sich bald herausstellte, ganz Wentrup erregte, hatte an einem Freitag stattgefunden. Am Samstag stellte man fest, dass der Penner immer noch am Feuerwehrhaus herumlungerte und jemand gesehen haben wollte, dass er unter einem Verschlag am Feuerwehrhaus geschlafen habe.
Den ganzen Samstag wurde hin und her debattiert, was denn zu machen sei.
"Gar nicht beachten,... verjagen, ... die Polizei benachrichtigen, lasst ihn doch, ... der tut doch keinem was, ... der hat hier in unserem ehrbaren Dorf doch nichts zu suchen, ..." so verschieden gingen die Meinungen hin und her.
Am Sonntag fehlte kein Wentruper im Gottesdienst. Sogar Frau Petersen war erschienen. Dem alten Jens Johannsen war es kaum möglich, Ruhe zu bekommen um den Gottesdienst zu beginnen. Überall standen Gruppen zusammen und diskutierten den Fall.

Als endlich Ruhe eingekehrt war, fühlte sich Johannsen genötigt, zum aktuellen Ereignis etwas zu sagen, obwohl er sonst nie eine Ansprache hielt.
"Es ist eines Christen unwürdig, negativ über einen armen Menschen zu reden. Was wissen wir über sein Schicksal und über das, was ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Also lasst diesen Menschen in Ruhe, redet nicht über ihn, sondern wenn ihr schon reden müsst, über eure eigenen Unarten. Früher oder später wird er Wentrup schon wieder verlassen." Das war für Jens Johannsen eine lange Rede gewesen. Die Gläubigen waren recht betreten nach seinen Ausführungen und nach dem Gottesdienst ging jeder still für sich nach Hause. Am Montagnachmittag schellte bei Minchen Medes das Telefon. Irmchen Petersen rief an. 
Sie wisse nicht, ob sie überhaupt darüber sprechen solle, aber es sei etwas Eigenartiges passiert. Wie jeder wisse, könne sie von ihrem Küchenfenster das ganze Dorf einsehen, besonders das Haus von Fine Friedrichsen. 
Und sie verbürge sich für das, was sie sage: sie habe gesehen, dass er, dieser Mensch vom Feuerwehrhaus, na, du weißt schon, wen ich meine, zu Fine ins Haus gegangen und erst nach einer Dreiviertelstunde herausgekommen sei.
In der folgenden Stunde waren die Telefone in Wentrup besetzt. Bald wusste es jeder. Minchen aber nahm sich ein Herz und rief Fine, mit der sie befreundet war, an. Ja, es stimmte, dieser Mensch war bei ihr gewesen und sie hatte ihm zu essen gegeben. Und da man morgen sowieso zum Frauentreff zusammenkam, wollte sie genau erzählen, wie es dazu gekommen war.

Am Dienstag um vier Uhr waren alle Wentruper Frauen bei Fine Hinrichsen versammelt. Keiner rührte Kaffee und Kuchen an, Alle waren sich einig, Fine musst zunächst erzählen, wie es zu diesem ungeheuerlichen Ereignis gekommen war. Und Fine erzählte bereitwillig:
"Also, als ich gestern das Mittagessen herrichten wollte, bemerkte ich, dass mir Petersilie fehlte und ich wollte in den Garten gehen, um etwas zu holen. Als ich die Haustüre öffnete, stand er vor mir."
Fine konnte zunächst nicht weitererzählen, weil plötzlich alles durcheinander sprach: "Wie kam er denn an deine Haustüre?... Das ist doch unverschämt..., ich hätte mich zu Tode erschrocken," so und ähnlich klang es durcheinander.
"Nein, er stand nicht vor meiner Haustüre, sondern am Gartentor. Aber ihr wisst ja, dass dieses nur knapp zwei Meter von meiner Haustüre entfernt ist, und er schaute mir direkt in das Gesicht, in die Augen. Ich bin zunächst auch zutiefst erschrocken und schlug sofort die Haustüre wieder zu. 

Ich ging in die Küche und schaute vorsichtig hinter der Gardine, was er jetzt machen würde. Ich hatte mich schnell wieder etwas beruhigt und sah den Mann immer noch vor dem Gartentor stehen. Und jetzt bemerkte ich, dass er nicht böse oder herausfordernd schaute, sondern ich hatte den Eindruck, seine Augen waren von einem eigenartigen Schmerz erfüllt. Er drehte sich dann zur Seite, ging zwei Schritte und setzte sich dann auf die kleine Gartenmauer. Ich konnte ihn nun von hinten sehen. Er nahm seinen Hut ab, wischte sich den Schweiß aus der Stirn und saß dann ganz ruhig da. Und dann, ja dann geschah es."
Fines Gesicht bekam eine verklärten Ausdruck und sie vergaß weiter zu erzählen.
"Fine, was geschah... erzähl weiter... mein Gott ist das spannend,..." tönte es durcheinander so dass Fine wieder in die Gegenwart zurückgeholt wurde und weiter berichtete:
"Als er so da saß, begann es plötzlich um seinen Kopf hell zu werden, und es wurde heller und heller, ein richtiger Lichtreif umgab seinen Kopf. Erst dachte ich, die Sonne bringe diesen Effekt hervor. Aber das war nicht der Fall. Und mit einem Mal wusste ich, das ist ER, der Herr, unser Herr."
Die Frauen hatten nach dieser letzten Aussage den Atem angehalten und wagten kaum, etwas zu sagen.
Endlich nahm sich Minchen ein Herz und fragte zögernd: "Du meinst, Fine, dass der liebe Gott selber nach Wentrup gekommen sei?"
"Ja," erwiderte Fine überzeugt, "der Herr oder ein Engel, was weiß ich. 
Und erinnert ihr euch nicht, dass wir bei unserer Weihnachtsfeier die Geschichte von Tolstoi gelesen haben, von dem Schuster Martin, der so sehr wünschte, dass der Herr selber ihn besuchen möchte, und wie dann statt dessen nur ein armer alter Mann kam und er später genau wusste, das war der Herr gewesen. Und in der Bibel haben wir gelesen, dass zwei Männer Abraham besuchten und er nicht wusste wer diese sind und dann stellte es sich heraus, dass es Engel oder der Herr selber gewesen war. Und im Hebräerbrief heißt es doch: Gastfrei zu sein, vergesst nicht, denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt. 

Das alles ging mir durch den Kopf und ich dachte, wenn der Herr nun in diesem Menschen zu uns gekommen wäre, und wollte von uns Obdach und Speise um uns zu prüfen wie es um unseren Glauben bestellt ist, und wir ihn nur abgewiesen hätten, was sollte dann aus uns werden?
Da hatte ich plötzlich keine Furcht mehr und bin hinausgegangen und habe ihn eingeladen zum Mittagessen. Und er hat da gesessen, die ganze Zeit und hat kein Wort geredet, aber das Essen hat ihm gemundet, das konnte ich sehen. 
Ich habe nicht gewagt ihn etwas zu fragen, es war eine besondere Atmosphäre. Und nach dem Essen stand er auf und sagte nur leise : Besten Dank, liebe Frau.
Ich bot ihm noch an, ihm ein Obdach zu besorgen, aber er lehnte ab, einen Schlafplatz habe er schon, er sei es gewohnt draußen zu schlafen, da fühle er sich am wohlsten. Ja, und dann ging er. Und in mir, in mir, " sagte Fine Friedrichsen mit leuchtenden Augen, " ist seitdem lauter Freude."
Danach setzte Stille ein. Die sonst so gesprächigen Frauen schwiegen. Das war doch alles zu wunderlich, was Fine erzählt hatte. Aber trotz ihres Alters, tüttelig war sie noch nicht, das wussten sie genau. Vielleicht war wirklich etwas dran, an ihrem Erlebnis. Und wer wollte schon eine Gnadenstunde Gottes verpassen? 
Am nächsten Tag, am Dienstag, stand Minchen Medes an ihrem Herd und tat gerade die letzten Handgriffe, um das Mittagessen zu bereiten. Von ihrem Küchenfenster schaute sie auf das Rundell als sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. 

Im Schatten der alten Kastanie sah sie ihn, 'diesen Menschen', wie sie den Mann vom Feuerwehrhaus bei sich nannte, an ihrem Haus vorbei mit langsamen, etwas schlurfenden Schritten, in den Händen seine Plastiktüten, auch heute mit Mantel und Hut bekleidet, auf das Haus der Petersen zugehen. 
Er ging zögernd bis an die Gartenpforte, blieb dort stehen und traute sich offensichtlich nicht, weiterzugehen, als sich auch schon die Haustüre öffnete und Irmchen Petersen heraustrat, auf den Mann zuging und ihn ins Haus geleitete.
Minchen Medes war sprachlos. dass Fine diesen Menschen eingeladen hatte, konnte sie ja noch verstehen. Sie war immer eine Frau gewesen, die ihre Gefühle nicht im Griff hatte. Aber doch nicht die Petersen! Wo sie noch nicht einmal zur Versammlung gehörten! Und wenn sie recht gesehen hatte, war sogar Peter Petersen zugegen gewesen.
Sind die Wentruper von allen guten Geistern verlassen, dachte sie empört. Hatte sie nicht ausdrücklich vor diesem Menschen gewarnt? Nach fast einer Stunde verließ der Mann das Haus der Petersen und ging, weder rechts noch links blickend, wieder in Richtung Feuerwehrhaus. Minchen Medes konnte es nicht unterlassen, Irmchen Petersen sofort anzurufen: Ob sie richtig gesehen habe, das der Mann vom Feuerwehrhaus bei ihnen gewesen sei? Und wie es dazu gekommen wäre. Irmchen Petersen antwortete ganz unbefangen: "Ja, Minchen, das stimmt. Weißt du, was Fine gesagt hat, dass ist mir doch nahe gegangen, und ich habe es meinem Mann erzählt. Und weißt du, er sagte," - das folgende sagt sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme, - "wir Lutheraner sind schließlich auch keine schlechtere Christen als andere, und deshalb sollten wir diesen Mann auch einladen. Und das haben wir dann auch getan. Du hättest sehen sollen, wie er gegessen hat! Gesagt hat er ja nichts, aber seine Augen haben hinterher richtig geleuchtet. Warum soll es diesem armen Menschen nicht auch einmal gut gehen, nicht wahr?

Übrigens, die anderen Wentruper wollen ihn auch einladen. Fine hat einen Plan gemacht, wo er wann eingeladen ist: Bei Fine und uns war er ja nun schon, am Mittwoch Mittag ist er bei Johannsens, am Donnerstag bei Iversens, am Freitag bei Rohwedders und Freitagabend noch bei Dams, ja und..."
Das weitere hörte Minchen Medes nicht mehr, sie war dermaßen überrascht und schockiert, was bei ihr wahrhaftig nicht leicht passierte, dass sie unbeabsichtigt den Hörer aufgelegt hatte. Sie konnte es nicht fassen, was hier vorging. Hatten sich alle gegen sie verschworen?
Die nächsten Tage verliefen für sie sehr unruhig. Da sie von ihrem Fenster aus alle Häuser in Wentrup überblicken konnte, stand sie jeden Tag zur angegebenen Zeit und sah, wie 'dieser Mensch' in die verschiedenen Häuser ging. Das soll ihm wohl gefallen, dachte sie bei sich, jeden Tag ein üppiges Mittagessen zu bekommen. Aber seltsam, je öfter sie den heruntergekommenen Mann sah, desto mehr kam Mitleid in ihr auf. "Was wissen wir über sein Schicksal und über das, was ihn zu dem gemacht hat, was er ist," klangen ihr die Worte des alten Johannsen im Ohr. Trotzdem braucht man nicht solch ein Wesen um ihn zu machen, wehrte sie sich innerlich. 
Und wer weiß, ob er an seinem Elend nicht selbst Schuld hat. Aber dann, in der Nacht von Freitag auf Samstag hatte sie einen Traum. Sie träumte, das sie mit vielen Menschen vor einem großen, kunstvollen eisernen Tor stand, hinter dem sich ein wunderschöner Park und ein Schloss befand. Auch alle Wentruper waren da. Die Menschen begehrten Einlass, aber es dauerte eine Zeit bis ein Mann in einer Livree kam und das Tor öffnete. Bevor er aber jemanden durch das Tor gehen ließ, musste er ein Buch aufschlagen, das jeder bei sich trug und auf dem in goldenen Lettern die Aufschrift gedruckt war: 'Das Buch der guten Taten.' Jeder einzelne trat vor, schlug sein Buch auf, der Mann in der Livree schaute kurz prüfend hinein und ließ den Betreffenden durch das Tor gehen. Endlich kamen auch die Wentruper an die Reihe. 

Minchen hatte sich als Letzte angestellt. Alle Wentruper wurden kontrolliert und konnten durch das Tor gehen. Sie selbst schlug, als sie an der Reihe war, ihr Buch auf, aber es kam nur eine leere Seite zum Vorschein. Verzweifelt blätterte sie in dem Buch vor und zurück, aber überall dasselbe: leere Seiten. Sie wusste, so würde sie nicht durch das Tor kommen und vor Verzweiflung schrie sie laut auf. Von ihrem Schrei wurde sie wach.
Am Samstag Morgen war sie sehr still und nachdenklich. Was hatte der Traum zu bedeuten? Der Gedanke, das man halt manchmal etwas träumt, das keine Bedeutung hat, beruhigte sie nicht. Und wie automatisch fing sie an, ein reichhaltiges Mittagessen zu bereiten, obwohl sie wusste, das Joachim, ihr Sohn, in der Kreisstadt bei seiner Freundin war und erst am späten Abend zurückkehren würde. Labskaus mit viel Rindfleisch bereitete sie zu. Und Spiegeleier und Hering würde es dazu geben. Und als Nachspeise eine Quarkspeise mit den ersten Erdbeeren aus dem Garten. 
Sie hatte sich so in ihre Arbeit vertieft, dass sie sich gar keine Rechenschaft darüber gab, wie das alles weiter gehen sollte. Als es auf 12 Uhr zuging und fast alles fertig zubereitet war, hielt sie inne. 'Minchen' sprach sie zu sich selbst, 'du weißt, das du diesen armen Mann einladen musst Sie bemerkte nicht, das sie zum ersten Male ihn nicht 'diesen Menschen' genannte hatte. Aber wie sollte das zugehen, sollte sie jetzt zum Feuerwehrhaus gehen und den Mann einladen? Was würde er sagen, was würden die Wentruper denken, da sie doch so gegen den Mann geredet hatte. Sie verstand sich plötzlich selbst nicht mehr. Sie hatte nur den heruntergekommenen und asozial wirkenden Menschen gesehen und nicht das Elend und Unglück dieses Mannes. 

Mochte es nun selbstverschuldet sein oder nicht. Kurzentschlossen band sie ihre Schürze ab und sagte laut und fest vor sich hin: "Und nun gehe ich , und hole ihn." Als sie gerade ihre Schritte zur Haustüre lenkte, erklang die Haustürglocke. Es passte ihr absolut nicht, dass jetzt gerade jemand kam, sie wollte unbedingt das erledigen, was sie sich vorgenommen hatte. 

Etwas ungehalten über die Störung ging sie zur Haustüre und öffnete diese abrupt. 
Vor ihr stand 'dieser Mensch'! Minchen war so verblüfft und überrascht, dass sie überhaupt nicht reagieren konnte. Sie stand da, mit leicht geöffneten Mund und großen Augen und sah den Mann fassungslos an. Dieser machte einen hilflosen und schüchternen Eindruck und stand ebenfalls schweigend mit gesenktem Kopf da. Endlich hatte Minchen Medes sich gefangen und stammelte: " Ja, ... bitte.. was kann ich für sie tun?"
Sie bemerkte jetzt, dass der Mann wohl viel älter wirkte als er wirklich war, und heruntergekommen war er wirklich. Dieser stand weiter hilflos vor ihr und brachte schließlich mit leiser Stimme hervor: "Entschuldigen sie bitte, aber man hat mir gesagt, das ich heute Mittag bei ihnen eingeladen sei. Aber entschuldigen sie, wenn das nicht so ist..."
"Nein, Nein, ich meine doch, natürlich, sind sie eingeladen, kommen sie herein, sie werden sehen, es ist alles vorbereitet."

Minchen Medes hat später nie darüber gesprochen, was sie in dieser kurzen Zeit , als der Mann in ihrem Hause war, erlebt hat. Sie hat auch nie erfahren, wer ihn zu ihr eingeladen hatte. Sie wusste nur, dass sie richtig gehandelt hatte und dass es keine Schande ist, so sagte sie es sich selbst später oft, wenn man seine Meinung ändert. Und ein gutes Werk sollte man immer tun, wo einem die Not vor die Füße gelegt wird. "Und es ist besser," so pflegte sie später bei entsprechenden Anlässen zu sagen, "jemanden Gutes zu tun, der es eigentlich nicht verdient, als einen wirklich Bedürftigen und Armen einmal abzuweisen."
Als Minchen Medes am nächsten Tag, dem Sonntag, zur Versammlung ging, war ihr etwas beklommen ums Herz. Was würden die anderen sagen, wer mochte den Mann zu ihr eingeladen haben, hoffentlich gab es keine peinliche Situation! Aber es kam ganz anderes. Es war, als wenn ein Geist der Freude, der Freundlichkeit und der Brüderlichkeit neu über den kleinen Kreis der Gläubigen ausgegossen worden wäre. Keiner redete von seiner guten Tat, niemand fragte danach, aber aller Augen glänzten und später waren sich alle einig darüber, dass ihre Choräle noch nie so schön geklungen hätten wie an diesem Sonntag, die Gebete nie so innig und frei waren.
Als der alte Johannsen fragte, ob jemand etwas sagen wolle, meldete sich zu aller Erstaunen wieder Fine. "Meine lieben Geschwister," sagte sie, und ihre Stimme zitterte etwas, "wir sind heute alle besonders freudig bewegt und wir alle wissen, warum. Aber was haben wir denn besonderes getan? Wir haben einem armen Menschen eine Mahlzeit gereicht. Aber wirkliche Gemeinschaft, haben wir ihm nicht angeboten. Hätten wir ihn nicht heute hier zum Gottesdienst einladen sollen? Hätte ihm das nicht auch gut getan, in unsere Gemeinschaft aufgenommen zu werden?" Zunächst waren alle erstaunt, Fine so reden zu hören und man schwieg betreten. Aber dann kam von allen Seiten Zustimmung. 
"Natürlich, das hätten wir tun sollen,... das wäre richtig gewesen..., schade das wir das versäumt haben," so klang es leise durcheinander, bis Sven Johannsen wieder das Wort ergriff und erklärte: " Und warum holen wir das nicht nach? Joachim," wandte er sich an den jungen Medes, "gehe doch zum Feuerwehrhaus und hole den Mann zu uns, sage ihm, dass wir ihn herzlich zu uns einladen."

Alle nickten beistimmend zu und Joachim Medes verließ den kleinen Saal während die Gemeinde weiter ihre Loblieder anstimmte. Joachim kam schon nach wenigen Minuten zurück, alleine. "Er ist nicht mehr da, dieser Mann," erklärte er, "ich habe alles rund ums Feuerwehrhaus abgesucht, nichts deutet mehr auf seine Anwesenheit hin, sogar die Plastiktüten sind verschwunden."
"Dann wird Gott unsere gute Absicht für die Tat werten," erklärte Jens Johannsen und mit einem Male hatten alle Wentruper den Eindruck, dass sie nicht alleine in ihrem kleinen, alten Gemeindesaal wären, und als Gesegnete gingen sie nach Hause. 
Von dem obdachlosen Mann aber haben sie nie wieder etwas gehört oder gesehen.
Als ein paar Wochen später der 'Bruder' der Mennoniten zu ihnen kam um nach dem Rechten zu sehen, erzählten sie ihm die ganze Geschichte. Ob der liebe Gott wirklich in Wentrup gewesen wäre, wollten sie wissen.
"Ob der liebe Gott persönlich oder eine Engel oder nur ein armen Mensch bei euch gewesen ist, das weiß ich nicht und das ist auch nicht wichtig," erklärte der weise Bruder, "wichtig ist, das ihr dem Worte Gottes gehorsam gewesen seid und geholfen habt , wo Not war. Sagt Jesus doch:

Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 
So gesehen wird es schon stimmen, dass der liebe Gott nach Wentrup kam."
war.

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