Der Tag fängt gut an!
oder
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben


Ich streckte mich wohlig unter dem Strahl der heißen Dusche. Das ist mein Samstagmorgen- vergnügen, bis 10 Uhr im Bett zu liegen, da kriegt mich so leicht keiner raus! Und dann nicht unter die kalte, unter die heiße Dusche. Ich sang und pfiff und fühlte mich rundum wohl.

Plötzlich schellte zweimal kurz die Glocke der Wohnungstüre. Nein, aus der Dusche holt mich keiner weg, mag da sein wer will. Ich sang noch etwas lauter, um ein weiteres Schellen erst gar nicht zu hören. Plötzlich fiel mir ein, das könnte der Postbote sein mit dem Einschreibebrief, den ich seit Tagen erwartete und der so ungeheurer wichtig für mich war.
Mit einigen hastigen Handbewegungen drehte ich den Hahn der Dusche zu, zog schnell, ohne mich abzutrocknen, meinen weißen Morgenmantel über - Mutter hatte ihn mir mal geschenkt - und lief zur Wohnungstür, riss sie hastig auf, stolperte fast über die von außen davor liegende Abtrittmatte - ich bin schließlich ein ordentlicher und sauberer Mensch! - und beugte mich über das Treppengeländer. Ja, die Post war da. "Hallo, Herr Postminister," rief ich lautstark, "haben sie bei mir geklingelt? Haben Sie einen Einschreibebrief für mich?"
Der Briefträger, der sich eine halbe Treppe tiefer befand, schaute auf: "Sind sie das, Herr Berger? Ja, ich habe einen Einschreibebrief für sie. Ich habe den Benachrichtigungsschein schon in ihren Briefkasten geworfen. Sie können den Brief am Montag auf der Hauptpost abholen."

"Aber sie können ihn mir doch jetzt aushändigen," ließ ich mich erstaunt vernehmen. Der Postmann schaute missbilligend die halbe Treppe hoch, sah dann mich an. "Ich komme natürlich zu ihnen runter," erklärte ich und setze mich, noch immer bei jeden Schritt eine kleine Wasserlache hinter mir lassend, zu ihm in Trab. Ich unterschrieb die Empfangsbestätigung und ging einige Stufen hoch, setzte mich auf den Treppenabsatz, öffnete den Brief und atmete erleichtert auf. Es war sie, die positive Nachricht. Ich sprang auf, der Tag fängt gut an, dachte ich befriedigt! Der Postbote hatte inzwischen die Haustüre erreicht. Als er sie öffnete, wehte eine starke Windböe durch das Treppenhaus und ein dumpfer Knall wurde hörbar.

Ich ging gut gelaunt und trällernd die Stufen hoch und stand schließlich vor meiner Wohnungstür. Vor meiner verschlossenen Wohnungstür! Der Windstoß und der dumpfe Knall! Was sollte ich jetzt tun, dachte ich mir. In der Eile hatte ich natürlich keinen Haustürschlüssel mitgenommen. Ich hatte zwar einen Ersatzschlüssel, ich glaube im Auto, aber dazu hatte ich auch keinen Schlüssel und außerdem hatte ich ihn seit kurzem verlegt. Nur ruhig bleiben und sich nicht die Laune verderben lassen!

Ich versuchte ganz cool zu bleiben, was mir nur insoweit gelang, dass meine spärliche Bekleidung nach dem heißen Bad dazu führte, dass ich die Kälte des Treppenhauses um so mehr spürte. Es gab nur einen Ausweg: Der Schlüsseldienst! 

Gut, das würde ein paar zig-Mark kosten, aber was soll's. 

Aber anrufen müsste ich. Wir waren drei Parteien im Haus. Über mir wohnte Fräulein Honigwein. Nein, bei ihr konnte ich unmöglich anrufen. Wenn ich in meinem Aufzug bei ihr erscheinen würde, bekäme sie einen Schreikrampf. Also blieben unter mir die alten Bellingstedts. Ganz vernünftige Leute. Aber nein, fiel mir ein, sie hatten mir gestern bei einer Begegnung im Treppenhaus erklärt, dass sie heute in aller Frühe zu ihrer Tochter nach Hamburg fahren würden. Da war guter Rat teuer. Zur Telefonzelle? Ich hatte ja nicht einmal einen Groschen bei mir! Du liebe Zeit, was sollte ich nur machen? Ich dachte angestrengt nach. Johanna! ja , das war die Lösung. Mit Johanna hatte ich zwei Jahre im selben Büro gearbeitet und sie jeden Morgen in meinem Wagen mitgenommen, so was verbindet. Sie wohnte nur zweimal um die Ecke. Allerdings hatten wir uns ca. ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Nein, eine Beziehung hatten wir nicht gehabt, aber gute Kollegen waren wir gewesen und duzten uns sogar.

Ich öffnete vorsichtig die Haustüre. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass Oktober war: kühler Wind, unangenehm. Und ich auf barfuss im Bademantel. Ich atmete einmal tief durch, zog den Gürtel des Mantels fest zusammen und trat auf die Straße. Mit langen Schritten ging ich los. Zum Glück war nicht viel Betrieb auf der Straße. Ich hielt die Augen gesenkt, so als wenn ich etwas auf der Straße entdecken wollte. Wohl weil ich glaubte, wen ich nicht sehe, der sieht mich auch nicht. Trotzdem blieben mir die Reaktionen einzelner Passanten nicht verborgen. Eine ältere Dame blieb stehen, riss die Augen weit auf und stieß eine kleinen Schrei aus. Sie hatte mich wohl für ein modernes Gespenst gehalten. Ein Mann im mittleren Alter schaute mich unmissverständlich an: wahrscheinlich aus den Klapsmühle entlaufen. Ein junges Mädchen bemühte sich sichtlich, mich nicht wahrzunehmen. Ich war aber überzeugt, dass sie mir nachsehen würde.

Endlich stand ich vor Johannas Haustüre, sie wohnte in einem kleinen Reihenhaus mit winzigen Vorgarten. Ich drückte zweimal besonders kräftig auf den Klingelknopf, so, als wenn dadurch die Schelle sich lauter bemerkbar machen würde. Zum Glück wurde die Türe schnell geöffnet. Johanna war es, wie gut! Sie schaute mich einige Sekunden ziemlich fassungslos an, aber bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie mich erkannt. "Um Himmels willen, Herbert, bist du es? Was ist dir denn passiert?

Ich schlüpfte durch die Türe und erzählte ihr mein Missgeschick und mein Anliegen. Nebenbei stellte ich fest, dass sie doch eigentlich eine ganz passable Person war. Dass mir das damals nicht aufgefallen war.

"Du musst ja ganz durchgefroren sein" erklärte sie mitleidig. "Weißt du was, gehe erst noch einmal unter die warme Dusche, sonst holst du dir noch eine ausgewachsene Grippe. Den Schlüsseldienst rufen wir dann später an." 
Der Rat war gut, und als ich unter der Dusche stand, war ich getröstet. Jetzt konnte nichts Negatives mehr passieren. Wir würden den Schlüsseldienst anrufen, er könnte hier zu Johanna kommen und mich zu meiner Wohnung mitnehmen und die Türe öffnen. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr mir!

Diesmal trocknete ich mich sorgfältig ab und ging ins Wohnzimmer zurück. Ein wohlriechender Kaffeeduft stieg mir in die Nase. "Hast du schon gefrühstückt?" fragte Johanna, was ich wahrheitsgemäß verneinte. 
"Dann frühstücken wir zusammen, ich bin heute auch spät dran, danach suchen wir dann die Nummer des Schlüsseldienstes heraus. Jetzt hat es ja keine Eile mehr, oder?"

Ich konnte ihr nur Recht geben. Zeit hatte ich ja am Samstagmorgen. Wir stellten fest, dass wir viel zu erzählen hatten. Schließlich hatten wir uns lange nicht gesehen. Nach längerer Zeit berichtete mir Johanna strahlend: "Und stell dir vor, seit drei Monaten bin ich verlobt! Mit einem selbständigen Maurermeister. Ein netter Mensch." Flugs hatte sie ein paar Bilder zur Hand. Der nette Mensch machte auf mich eher den Eindruck eines Berufboxers. Ich schätzte ihn auf 1,95 Meter und zweieinhalb Zentner. Johanna hatte wohl meine Gedanken erraten. 

"Nicht wahr, ein stämmiger Mann," erklärte sie nicht ohne Stolz. "Aber wirklich gutmütig. Abgesehen davon, dass er sehr eifersüchtig ist," erklärte sie lächelnd. Als ich sie daraufhin etwas ängstlich anschaute, meinte sie: "Nein, da besteht keine Gefahr, Gustav ist heute beruflich nach München unterwegs, er ist schon mit dem 9 Uhr Zug gefahren."
Es wurde ein richtig gemütlicher Vormittag. Endlich konnte ich Johanna bewegen, das Telefonbuch zu holen. Ich hatte gerade angefangen zu blättern, als es an der Haustüre klingelte. "Nanu, " wunderte sich Johanna, "wer kann das sein? Ich erwarte niemanden." "Vielleicht die Post," sagte ich, an meine eigene Erfahrung denkend. "Nein, die ist schon vorbei;" rief Johanna auf dem Weg zur Türe. Ich hörte, wie diese geöffnet wurde und Johanna ziemlich konsterniert sagte: "Du bist das, Gustav, ich denke du bist mit dem 9 Uhr Zug nach München gefahren.?" "Wollte ich auch, mein Schatz," hörte ich eine tiefe Männerstimme sagen, "aber ich hatte solche Sehnsucht nach dir, schließlich komme ich erst am Mittwoch zurück, darum habe ich mich entschlossen, mit dem Mittagszug zu fahren, das reicht noch. Aber du scheinst dich gar nicht zu freuen, Johanna?" fügte er erstaunt und ein bisschen misstrauisch hinzu. "Doch, doch," beeilte sich Johanna zu sagen, "ich freue mich natürlich sehr. Ich wollte dir nur sagen..., ich meine..., weißt du..., ich habe nämlich Besuch. Ja ganz unerwartet, Herbert, ich meine Herrn Berger, wir sind ehemalige Arbeitskollegen." 
Ich merkte, wie ein kalter Strahl über meinen Rücken lief. Ich hockte auf der Couch. Meine nackten Füße fielen mir auf einmal besonders unangenehm auf und ich setzte mich im Schneidersitz auf das Sitzmöbel in der Hoffnung, so besser angezogen zu wirken.

"Weißt du," hörte ich Johanna ängstlich sagen, "Herr Berger hat Pech gehabt..." In diesem Augenblick tauchte Gustav in der Wohnzimmertüre auf. Er füllte fast den ganzen Türrahmen aus. Mit einem Blick hatte er die ganze Situation erfasst und schaute mich auf der Couch hockendes Häuflein Elend verächtlich an und schrie: "Pech hat er gehabt? Jetzt wird er erst einmal Pech haben."

Mit zwei, drei schnellen Schritten war er bei mir, packte mich wie ein verschnürtes Paket, trug mich knurrend zur Haustüre, die noch offen stand und warf mich in einem eleganten Bogen in den winzigen Vorgarten. Trotz allem vernahm ich mit einer gewissen Befriedigung, dass der Maurermeister die Haustüre hinter sich zuknallte und von mir abließ. Ich schien noch alle Knochen heil zu haben und rappelte mich auf. 

"Hu, Huch, ein Sittenstrolch," hörte ich plötzlich eine empörte Stimme. Als ich aufblickte, stand eine alte Dame auf dem Bürgersteig, die gerade sah, wie ich hinter einem Strauch hervorschoss. Mit eilig trippelnden Schritten ging sie davon und ich konnte sehen, dass sie im nächsten Reihenhaus verschwand. Ich hatte kein gutes Gefühl. Die unsanfte Landung im Garten hatte zwar keinen großen Schaden angerichtet, aber mein schneeweißer Bademantel hatte grüne und schwarze Flecken und mein sauber geduschter Körper war inzwischen auch nicht mehr Reinheit pur. Ich hatte den Wunsch, mich weiteren neugierigen Blicken zu entziehen, denn schon öffneten sich Fenster der benachbarten Wohnungen. Zum Glück befand sich aber kein weiterer Passant auf der Straße. Die Fahrer der vorbeifahrenden Autos beachteten mich nicht. Ich entdeckte einen Verschlag für die Abfalltonnen und zog mich dahinter zurück. Ich musste erst einmal verschnaufen. Der Tag hatte so gut angefangen. Wie glücklich war ich noch vor ein paar Stunden gewesen! Man soll den Tag nicht vor den Abend loben und einige andere gescheite Sprüche gingen mir durch den Kopf. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte, als ich plötzlich das gellende Tatütata eines Polizeiwagens vernahm. Das ist die Lösung, fuhr es mir durch den Kopf. Ich vertraue mich der Polizei an und die wird alles regeln. 
Aber bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, hielt der Polizeiwagen mit quietschenden Reifen fast vor meinem Versteck. Im selben Augenblick wurde die Haustüre des nächsten Reihenhauses geöffnet und die alte Dame schrie hysterisch: "Da, da ist er, der Sittenstrolch." Plötzlich klickten zwei Handschellen um meine Gelenke zu und zwei stämmige Polizisten bugsierten mich in ihren Wagen. "Aber, was soll das? Ich habe nichts getan, lassen sie mich los," versuchte ich zu protestieren. "Das alles können sie in aller Ruhe auf der Wache erzählen, erklärte der ältere der beiden Beamten ungerührt". Ich gab erst einmal auf.

Auf der Wache dauerte es eine geschlagene Stunde, bis ich meinem Freund und Helfer klar machen konnte, dass ich nichts weiter war als ein vom Pech verfolgter, aber sonst ganz normaler Bürger, ohne Vorstrafen und böse Absichten. Meinen Ausweis wollte er sehen! "Gehen sie mit dem Personalausweis unter die Dusche?" hatte ich gereizt gefragt. Richtig glaubte er mir erst, als er meinen Chef und meine Mutter angerufen hatte. Ich durfte gar nicht daran denken, was für Fragen ich in den nächsten Tagen würde beantworten müssen!

Schließlich rührte ich doch noch des Beamten Herz, er ging an das wacklige Spind, das im Vernehmungsraum stand und ergriff ein paar dort deponierte alte Stiefel.. "Hier, ziehen sie die an, ich leihe sie ihnen, sie Unglückswurm." Ich zog die alten Dinger an, sie waren mir zirka zwei Nummer zu groß, aber ich hatte plötzlich den Eindruck, wieder richtig angezogen zu sein. Welch ein Gefühl.

"Und außerdem," erklärte der Beamte, "fahre ich sie gleich nach Hause, damit sie in ihrem lächerlichen Aufzug nicht noch ganze Stadtteile auf sich aufmerksam machen." "Aber vorher muss ich den Schlüsseldienst anrufen," erinnerte ich.
Er warf mir das Telefonbuch rüber und verließ den Raum. Ich blätterte: S..., Sch..., Schl..., Schlüs-sel-dienst, da war sie, die rettende Telefonnummer. Als ich mich nach Schreibuten­silien umschaute, um die Nummer zu notieren, stürzte plötzlich der Beamte ins Zimmer. "Sie müssen sofort den Raum verlassen," erklärte er. Auf dem Flur der Behörde hörte ich lautes Rufen, Türenschlagen und vom Hof aufheulende Motoren der Autos. "Aus dem Stadtgefängnis sind einigen Schwerverbrecher ausgebrochen, wir haben höchste Alarmbereitschaft, ich muss sofort weg," erklärte mir der Beamte und drängte mich auf den Flur. "Es tut mit leid für sie." 

"Aber ich muss anrufen, den Schlüsseldienst," rief ich verzweifelt. 
"Melden sie sich an der Telefonzentrale und nehmen sie sich ein Taxi" rief der Beamte mir zu und verschwand und ich gewahrte, dass das Gebäude offensichtlich menschenleer war. Aber die Telefonzentrale! Der Beamte dort saß hinter seiner Tastatur und schaute angestrengt auf seine verschiedenen Lämpchen, die blinkten und leuchteten. 
"Herr Polizeipräsident," versuchte ich zu scherzen, " ich muss unbedingt anrufen, ihr Kollege hat..." Ehe ich zu Ende reden konnte, fiel er mir ins Wort: 
"Anrufen? Vollkommen unmöglich, wir haben Großalarm. Hier geht kein Gespräch raus. Alles blockiert für interne Anrufe." Und schon klingelten die Telefone hektisch und laut und ich begriff, dass ich auf verlorenem Posten stand.
Inzwischen war es Nachmittag geworden und ich war wieder genau so weit wie heute morgen im Treppenhaus. Ich war nahe daran, zu verzweifeln, als mich plötzlich so etwas wie Galgenhumor beschlich. Alles von der lockeren Seite nehmen, sagte ich mir. Und plötzlich wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Keinen Schlüsseldienst und kein Taxi würde ich rufen. Ich überlegte, mit meinen Siebenmeilenstiefeln wäre ich in etwa 20 Minuten zu Hause, und für dort hatte ich schon eine Lösung parat. Am nächsten Papierkorb angelte ich mir eine alte Zeitung, legte sie sorgfältig zusammen zu einer Einlegesohle für meine schlotternden Stiefel, die plötzlich passten und wärmten und ich ging, ohne mich um manch erstaunten Blick der Passanten zu kümmern, zu meiner Wohnung. Und ich hatte endlich wieder einmal Glück. Die Haustüre war zwar geschlossen. Aber das Schloss war so eingestellt, das man die Türe ohne einen Schlüssel aufdrücken konnte, eine Vorrichtung an vielen Haustüren, die sehr praktisch ist, wenn man etwas hineinzutragen hat. Die Honigwein hatte wohl vergessen, den kleinen Hebel zurückzustellen.

Ich ging mit sicheren Schritten die Treppe hinauf bis vor meiner Wohnungstüre, die immer noch wohl verschlossen war, aber, das stand fest, nicht mehr lange! Wozu schaute man sich schließlich Krimis an. 
Hunderte Male hatte ich gesehen, wie Inspektor X oder Kommissar Y eine verschlossene Wohnung erstürmten, hinter der sie einen Gangster vermuteten. Ein Anlauf, rechte Schulter mit Wucht auf die Schlossseite der Türe geworfen, und drin war man! Einen richtigen Anlauf musste man nur nehmen können. Ich schritt die Distanz ab von meiner Wohnungstüre bis zur gegenüberliegenden Wand, 3,5 Meter. Immerhin! das musste reichen. Ich nahm einen gewaltigen Anlauf, stülpte meine rechte Schulter vor und erwischte die Türe genau an der richtigen Stelle. Es gab einen gewaltigen Krach, in meiner Schulter einen stechenden Schmerz! Ich hatte wohl die Stabilität meiner Türe unterschätzt. Sie war nicht nur aus dem Schloss gesprungen, sondern das ganze Türblatt hatte sich aus den Angeln gelöst und klatschte auf den Flurboden. Ich lag obenauf und rutschte den Flur hinunter, bis die am Ende des Flures stehende Garderobe die Fahrt stoppte.

Plötzlich war es fast unheimlich still. Oben öffnete sich eine Türe: "Herr Berger, sind sie das, der solch einen heftigen Lärm macht? Das ist aber wenig rücksichtsvoll, Herr Berger." Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe, jedenfalls sprach Fräulein Honigwein von diesem Moment an nicht mehr mit mir.
Ich rappelte mich auf. Ich war in meiner Wohnung! Gut, die Schulter schmerzte ein bisschen, der halbe Türrahmen war weggebrochen, aber was soll's, jedenfalls meine Odyssee war zu Ende. Ich hob das Türblatt auf um es wieder provisorisch in den Rahmen zu stellen, als ich bemerkte, dass die Abtrittmatte mit in den Flur gerutscht war. Ich hob sie auf, um sie wieder an ihren angestammten Platz zu legen. Ich bin schließlich ein ordentlicher Mensch, selbst in ungewöhnlichen Situationen. Als ich mich niederbückte um sie abzulegen, sah ich an dieser Stelle etwas Metallisches blinken. Ich hob es auf, ein kleines, kaltes Metallstück: Mein Ersatzschlüssel!! Er hatte die ganze Zeit unter der Abtrittmatte vor der Türe gelegen! Ich erinnerte mich. Als vor einigen Tagen Mutter zu mir kommen wollte zu einer Zeit, wo ich voraussichtlich nicht zu Hause sein würde, hatten wir verabredet, dass der Schlüssel unter der Matte liege. Ich hatte Mutter dann aber doch im Treppenhaus getroffen, ihr aufgeschlossen und den Schlüssel vergessen unter der Matte wegzunehmen. Macht des Schicksals!

Die Reparatur der Türe kostete mich ein kleines Vermögen, Gustav hatte die Verlobung gelöst, Mutter hatte Fragen, die ich nicht beantworten konnte, mein Chef schrieb mir eine Abmahnung. Die Polizei besuchte mich noch einige Male, die Schulter schmerzte noch acht Tage! Und dabei hatte der Tag so gut angefangen!

PS.: Acht Tage später besuchte mich Johanna, ich tat ihr so leid!

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