Die Schuhe
oder
Wie man Ärger vermeidet und doch zu seinem Recht kommt

Wo Menschen zusammenleben, gibt es schnell Spannungen, Ärger, Krach und Streit. Ich kenne zwei Familien, die lebenslang nicht mehr miteinander gesprochen haben, nachdem eine Hausfrau die andere beschuldigt hatte, das gemeinsame Treppenhaus nicht sauber genug geputzt zu haben. 

Diese grundsätzliche Problematik war auch dem Ehepaar Walter und Irma Neumann wohlbekannt. Deshalb hatten sie sich vorgenommen, in ihrer neuen Wohnung, die sie vor kurzem bezogen hatten, unter allen Umständen darauf hinzuwirken, mit den anderen Mietern Frieden zu halten, koste es, was es wolle.
In der neuen Wohnung waren sie vollauf glücklich. Eine angemessene Miete, gut achtzig Quadratmeter Wohnfläche in einem Haus in Hanglage. Das bedeutete, aus 4 von 5 Fenstern eine kaum zu beschreibende schöne Aussicht. Ein weites Tal, durchzogen von grünen Wiesen, bunten Feldern und kleinen Waldstücken, und unten im Tal schlängelte sich ein Fluss. 

Das Ehepaar Neumann ist ein feinsinniges, schöngeistiges Paar, interessiert an allem Schönen und Harmonischen. So machte ihre Wohnung einer kleinen Kunstausstellung alle Ehre. Frau Neumann war deshalb sehr erfreut, dass auch das Ambiente im Haus passend war. Da sich in der unteren Etage Läden befanden, ging man im Treppenhaus zunächst eine Etage hoch, bevor man in den Flur kam, von dem aus man dann die einzelnen Wohnungen erreichte. Es waren 5 an der Zahl. Der ganze Flur war mit hellem Marmor ausgelegt und machte so einen vornehmen und wertvollen Eindruck.
Frau Neumann hatte im Einverständnis mit dem Vermieter und den übrigen Mietern das Treppenhaus noch besonders ausgestattet. Auf dem ersten Treppenabsatz stand ein halbhohes Margeritenbäumchen mit Seidenblumen und an drei anderen Stellen hatte sie kleine Steinfiguren aufgestellt, wie man sie sonst in italienischen Gärten findet. Das ganze sah hübsch und sehr dekorativ aus.

So war das Glück der Neumanns vollkommen. Aber, wie es im Leben oft ist, das Glück verweilt meist nicht lange an einem Ort. So war es auch hier.

Zwar verstand man sich mit den übrigen Mietern gut, selbst mit dem jungen Ehepaar Groß, das die erste Wohnung vom Eingang des Flures aus gesehen bewohnte und das irgendwie eigenartig war. Frau Groß war zwar freundlich und und nett, aber auch sehr distanziert. Er etwas brummig und grüßte selten. Und durch dieses Ehepaar fiel ein Wermutstropfen in den Becher des Glücks. 

Frau Groß, so zeigte es sich nach einiger Zeit, hatte eine eigenartige Angewohnheit, sie pflegte ihre Schuhe stets auf dem Flur auszuziehen und diese dann rechts oder linkes neben der Wohnungstüre zu deponieren, wo sie stehen blieben, bis sie wieder gebraucht wurden. Dabei handelte es sich offensichtlich nicht um die guten Ausgehschuhe, die ständig auf dem Flur standen, sondern um ausgetretene ältere Schuhe, die sie nur bei miserablen Wetter anzog oder wenn sie ihren Hund ausführte. Auch als neutraler Betrachter musste man zugeben, dass das in dem wertvoll 
ausgestatteten Flur kein erhebender Anblick war. Neumanns schüttelten jedes Mal nur den Kopf, wenn sie über den Flur zu ihrer Wohnung gingen und notgedrungen das Schuh-Arrangement in Augenschein nehmen mussten. Ihr Schönheitsempfinden wurde jedes Mal empfindlich verletzt. 

Aber eingedenk des Vorsatzes, mit allen Mitbewohnern in Frieden zu leben, scheuten sie sich, mit der jungen Frau über das Problem zu reden. Aber, was wir für kurze Zeit in Geduld tragen, wird meist auf die Länge zur Last. Wie schon das Sprichwort sagt: Die Länge trägt die Last. 

Eines Tages war Frau Neumann so verärgert, dass sie ernstlich überlegte, doch etwas zu unternehmen. Jetzt standen nicht nur alte, sondern auch richtig schmutzige Schuhe vor der Tür. 
Ihr Mann aber erklärte daraufhin: „Irma, verlass dich auf mich. Mit reden ist da nichts getan, dass gibt nur Ärger. Aber mit Intelligenz, Charme und vielleicht auch ein bisschen Raffinesse ist das Problem schon zu lösen. Du wirst sehen, in einigen Tagen werden keine Schuhe mehr auf dem Flur stehen.“ 
„Und wie soll das gehen, Walter? Es darf keinen Streit geben, dann soll lieber alles so bleiben wie es ist.“
„Überlass nur alles mir,“ erklärte ihr Mann daraufhin etwas geheimnisvoll.
Als nach einigen Tagen die Schuhe immer noch vor der Türe standen und Frau Neumann und ihr Mann daran vorbei gingen, sagte sie, mit einem leisen Fragen in der Stimme:
„Sie stehen immer noch da, Walter!“ 
Ihr Mann erwiderte nichts darauf, aber um seinen Mund spielte ein vielsagendes Lächeln. 
Am nächsten Tag um die Mittagszeit ertönten plötzlich vom Flur her einige kurze, spitze Schreie: „Huii, Pfui... was ist das, Hilfe!“

Herr Neumann stürzte an die Flurtüre, öffnete sie und sah Frau Groß auf dem Flur vor ihrer Wohnungstür stehen in einer unbeschreiblich hilflosen Pose. offensichtlich hatte sie gerade ihre vor der Türe abgestellten Schuhe angezogen. 
Aber sowohl ihre Schuhe wie auch ihre Beine und der Fußboden im Umkreis von fast einem Meter waren mit einer braunen Masse bespritzt. Frau Groß stand mit steifen Beinen, starren Armen und gespreizten Fingern da und wagte sich nicht zu rühren. Herr Neumann ging die wenigen Schritte auf Frau Groß zu.
„Was haben sie gemacht, was ist das?“
„Wenn ich das nur selber wüsste,“ erwiderte Frau Groß. „Aber ich glaube, man hat mir – ich schäme mich fast es auszusprechen – ich glaube man hat mir Kot in die Schuhe geschmiert und nun ist alles verdreckt.“
„Warten sie, ich helfe ihnen. Stützen sie sich hier auf meinem Arm und ziehen sie erst einmal die verdreckten Schuhe aus..“
Frau Groß zog die verschmieren Schuhe von ihren Füßen und übergab sie Herrn Neumann, der sie aufmerksam inspizierte.
„Frau Groß, ich glaube, man hat ihnen einen Streich gespielt. Was sich in ihren Schuhen befindet ist kein Kot, sondern Mostrich, Senf.“
„Aber warum das?“ fragte Frau Groß ahnungslos aber mit leiser Verzweiflung in der Stimme. 
„Ich nehme an, irgendjemanden gefällt es nicht, dass sie ihre Schuhe auf dem Flur stehen lassen. Aber nun wollen wir eine kleine Säuberungsaktion einleiten. Säubern sie sich zunächst einmal selbst gründlich. Das andere mache ich.“
Ein paar Minuten später erschien Herr Neumann mit einem Eimer Wasser und einigen Reinigungstüchern und in kurzer Zeit war der Schaden behoben.
„Aber wer macht denn solch eine Gemeinheit,“ jammerte Frau Groß. Ich habe die Schuhe doch nur deshalb in den Flur gestellt, weil ich meinen schönen Teppichboden in der Diele nicht beschmutzen wollte.“
„Aber liebe Frau Groß, das kann man doch anders regeln.“
Frau Groß, jetzt schon etwas gefasster und wütender erklärte:
„Wissen sie, ich möchte jetzt schon aus Trotz die Schuhe weiterhin auf den Flur stellen.“
„Das würde ich ihnen nicht raten,“ fiel ihr Herr Neumann ins Wort.
„Die ganze Sache war ja noch recht harmlos. Aber stellen sie sich vor, man hätte ihnen etwas Ätzendes in die Schuhe getan oder gar Heftzecken oder Glassplitter. Es ist geradezu gefährlich, die Schuhe hier zu deponieren, wie sie sehen.“
„Daran hätte ich nie gedacht, aber sie haben Recht, ich werde das ändern. dennoch möchte ich gerne wissen, wer der Übeltäter war. Ich muss jetzt ja alle Hausbewohner verdächtigen. Außer ihnen natürlich, Herr Neumann. Danke, dass sie mir so uneigennützig geholfen haben. Ich werde ihnen das nicht vergessen.“
Am nächsten Tag lag ein schöner Blumenstrauß vor Neumanns Türe und ein Kärtchen auf dem stand: Danke, liebe Neumanns. Ihre Friede Groß.

Wenn das Ehepaar Neumann jetzt durch den Flur ging, war es für beide ein reiner Genuss. Zu dem Ehepaar Groß hatten sie in aller Zukunft das beste Verhältnis. Sogar Herr Groß grüßte jetzt immer ausnehmend freundlich, wenn er dem Ehepaar begegnete. 
Ein paar Tage nach diesem Vorfall saß Frau Neumann an ihrem kleinen Schreibtisch und stellte die Einkaufsliste zusammen.

„Irma,“ rief ihr Mann ihr zu: „Denke bitte daran, eine große Tube Senf aufzuschreiben. Die jetzige ist total leer..“
„Ich glaube, Walter,“ ließ sich Frau Irma vernehmen, „dass wir in Zukunft keine große Tube Senf mehr brauchen werden. Aber ich schreibe eine kleine auf.“ 

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