Omi Delchen
oder
Die Reise nach Indien


Eigentlich ist "Delchen" kein richtiger Name, deshalb soll erklärt werden, wie unsere alte Dame zu dieser Namensform kam. Ihr voller Name ist Adele. Als Kleinkind konnte sie das "A" nicht aussprechen und nannte sich selbst 'Dele'. Der Name ist ihr geblieben bis zu ihrer Hochzeit. Ihr Mann nannte sie, da sie ein kleines und zerbrechliches aber auch wendiges und sportliches Frauchen war, dann auch noch in der Koseform 'Delchen'. Und dabei blieb es. Als sie älter geworden war und Enkelkinder bekam, nannten diese sie, zur Unterscheidung zur anderen Großmutter, eben Oma Delchen und, weil man sie besonders lieb hatte, entstand auch noch die Koseform Omi.

Jetzt, nach dem Tode ihres Mannes, lebt Omi Delchen schon seit zehn Jahren allein. Sie ist überall beliebt und alle die sie kennen nennen sie weiter Omi Delchen.
Ihre 73 Jahre sieht man ihr nicht an. Sie ist immer noch so schlank und drahtig, wie sie als junge Frau war und ihr altes Gesicht zeigt immer noch einen gewissen Liebreiz.
"Man muss sich auch im Alter fit halten," pflegt sie zu sagen und gewissenhaft treibt sie jeden Morgen ihre gymnastischen Übungen. Sie hat ein recht gutes und meist auch glückliches Leben geführt, sich für vieles eingesetzt und begeistert und fast alles, was sie erstrebt hatte, war auch für sie in Erfüllung gegangen.
Nur ein Wunsch war ihr versagt geblieben: eine Indienreise. Dabei muss man wissen, dass Omi Delchen von je her unwahrscheinlich begeistert für dieses Land war. Schon als Mädchen hatte sie sich auf alle nur erdenkliche Weise mit diesem Land vertraut gemacht. Im Laufe ihres Lebens hatte sie ungezählte Vorträge über Indien gehört, viele Filme gesehen und ihre Bücherei bestand fast nur aus Bildbänden, Reisebeschreibungen und Sachbüchern über das Land ihrer Sehnsucht.

Dabei hätte sie nicht einmal sagen können, wie sie zu dieser Begeisterung gekommen war. Fragte man sie danach, erklärte sie meist lächelnd: "Das muss mir schon in die Wiege gelegt worden sein. Ich interessiere mich schon so lange ich denken kann für Indien."

Inzwischen hatte sie sich schon fast damit abgefunden, dass sie nicht mehr das Land ihrer Träume sehen würde. Aber nur fast! Manchmal nämlich hatte sie das Empfinden, dass noch einmal ein Wunder geschähe und sie doch noch diese Reise unternehmen werde. Und wenn es kein Wunder ist, dann vielleicht ein spezieller Glücksfall.
Auch jetzt im Alter hatte ihr Interesse nicht nachgelassen. Im Gegenteil. Sie suchte jede Gelegenheit, sich weiter zu informieren. So war es für sie eine Freudenbotschaft, dass in ihrer Stadt, sie wohnt in einer Großstadt im Süden unseres Landes, eine große, mehrwöchige Indienausstellung stattfinden würde mit vielen Programmpunkten, Original Exponaten aus dem Lande, Filmbeiträgen, Folkloregruppen , kurz alles, was zu solch einer Mammutausstellung zu erwarten war. Omi Delchen war eine der ersten Kundinnen, die sich eine Dauerkarte kaufte und es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht auf dem Ausstellungsgelände war. 
Körperlich und geistig war sie dazu noch gut gerüstet.

Einige Tage nach der Ausstellungseröffnung fand sie einen Artikel in der Zeitung, dass die Ausstellungsleitung beschlossen habe, den zehntausendsten Besucher mit einer Indienreise zu ehren, die von einen großen indischen Unternehmen gespendet worden war.
Als Omi diesen Artikel gelesen hatte, seufzte sie nur tief auf. Da wird nun irgend jemand diese Reise gewinnen, der vielleicht gar nicht solch ein großes Interesse an diesem Land hat oder der die Reise sogar gut selbst bezahlen könnte, während ich keine Chance habe, das Land noch einmal zu sehen. Dabei bin ich praktisch jeden Tag auf dem Ausstellungsgelände, da könnte, rein theoretisch, auch ich den Preis gewinnen. Aber so viel Glück kann ja kein Mensch haben, dachte sie.
Plötzlich stockten ihre Gedanken. Sicher, normalerweise standen ihre Chancen 1 : 10 000. Das ist aussichtslos. Aber, dachte sie weiter, wenn man dem Glück etwas nachhelfen würde: Corriger la fortune, wie die Franzosen sagen. Nein, nichts Unredliches. Aber jeder ist selber seines Glückes Schmied. Und computerschnell war in ihren Gedanken ein Plan, eine Möglichkeit. Wenn man zum Beispiel erfahren könnte, an welchen Tag der zehntausendste Besucher zu erwarten wäre, dann sind die Chancen schon bedeutend höher.
Sie begann sofort, ihren kühnen Plan zu verwirklichen. Zunächst sagte sie für die nächsten Tage alle anderen Verpflichtungen und Besuche ab. In ihrem Haushalt würde sie nur das Notwendigste tun und mindestens täglich wollte sie die Ausstellung aufsuchen.

Damit begann sie schon am nächsten Tag. Bald hatte sie herausgefunden, wann die wenigsten Besucher kamen. Das war meist um die Mittagszeit. Um diese Zeit erschien jetzt regelmäßig Omi Delchen. Jetzt war auch Gelegenheit, einen kleinen Plausch mit den beiden Kassiererinnen und dem Einlassbeamten anzufangen. Bald war sie mit allen sehr vertraut und erfuhr immer wieder Internas der Ausstellung. Sehr bald kam man auch auf den zehntausendsten Besucher zu sprechen und die Kassiererinnen wussten darüber natürlich genau Bescheid. 
Eines Tages überraschten sie Omi Delchen mit der Nachricht: Morgen muss es soweit sein. Wenn der Besucherstrom so anhält wir bisher, muss es in den späten Vormittag fallen.
Am nächsten Tag war Omi schon da, bevor eröffnet wurde. Der 132zigste wird es sein, verkündete die Kassiererin hinter vorgehaltener Hand. 

In Omis Gehirn fraß sich diese Zahl fest: 132, 132, 132!
Heute ging sie nicht in das Ausstellungsgelände hinein, sondern setzte sich auf eine Besucherbank kurz vor dem Einlass. Um das, was jetzt folgt, richtig zu verstehen, muss man mit den Örtlichkeiten des Schauplatzes gut vertraut sein. Deshalb hier eine Beschreibung. Die Ausstellung fand in einigen Messehallen und im Freien statt. Die Hallen stehen in einem parkähnlichen Gelände, das eingezäunt ist. Der Einlass befindet sich im Freien. Rechts und links vor dem Eingang stehen Gebäude, in denen auch die Kassen untergebracht sind. Hier lösen die Besucher ihre Karten und gehen dann ca. 30 Meter bis zu dem Einlass im Freien wo sich eine kleines Kartenhaus befindet in welchen den Einlassbeamte sitzt und die Karten entwertet. Mit der Entwertung war man dann offizieller Besucher der Ausstellung und wurde gezählt.

Vor dem Einlass, im etwa 10 Meter Entfernung von diesem, standen auf einer Seite einige Sitzbänke. Auf eine dieser Bänke hatte sich unsere alte Dame an jenem denkwürdigen Tag niedergelassen. Sie hatte sich vorgenommen, ganz cool zu bleiben und nur zu zählen. Nicht um eine Person durfte sie sich verzählen.
Dabei wusste sie, dass ihr Plan einige Unwägbarkeiten in sich barg, die alles unsicher machte. Wenn zum Beispiel kurz vor Erreichen der magischen Zahl eine Gruppe mit mehreren Leuten kommen würde, hatte sie keine Chance. Und auch andere Konstellationen sind denkbar, die einen Erfolg vereiteln würden. Dann brauche ich eben eine bisschen mehr Glück, dachte die alte Dame.

Und sie zählte 1-2-3-10-32- 67. An diesem Morgen war der Andrang nicht besonders groß. Dann, um 11,42 Uhr war es so weit, die Zahl 9998 war erreicht. Wenn jetzt nicht eine Einzelperson kommt, fuhr es ihr durch den Sinn, ist alles verloren. Aber nur nicht aufgeben, Hoffnung behalten, ganz einfach glauben, dass das, was man sich intensiv wünscht, auch in Erfüllung geht. Ohne es bewusst zu registrieren schickte sie ein Stussgebet zum Himmel.
Sie war innerlich angespannt wie eine Sehne auf einem schussbereit Bogen und konzentriert wie ein Läufer, der in den Startlöchern steht und auf den Startschuss wartet.

Dann war es so weit. Vom Parkplatz her näherte sich ein junges Paar. Er und sie, beide etwa Ende Zwanzig. Ja, sie gingen zur Kasse uns lösten offensichtlich Eintrittskarten. Omi saß auf ihrer Bank und konnte es nicht glauben: alles verloren! Raschen Schrittes gingen die beiden auf den Einlass zu.
Einen Meter davor stoppte die junge Frau plötzlich ihren Schritt. "Paul", konnte Omi verstehen, "ich habe meine Brille im Wagen vergessen, holst du sie mir bitte, sonst kann ich in der Ausstellung nichts richtig sehen."
Omi Delchen glaubte zu träumen, das war sie, die Gelegenheit, ihre ganz persönliche Gelegenheit, das Wunder. Wenn die junge Frau jetzt durch die Sperre geht, ist sie die 9999zigste Besucherin und ich brauche mich nur aufzumachen und die paar Meter zurückzulegen, um ebenfalls durch die Sperre zu gehen und ich habe gewonnen, das schoss Omi blitzschnell durch den Kopf.

Sie schaute zu der jungen Frau und sah, dass sie die Sperre durchschritt.
Gerade als der junge Mann an ihrer Bank vorbeiging, erhob sich Omi Delchen und ging in Richtung Einlass. Aber kaum, dass sie drei Schritte gegangen war, hörte sie die junge Dame rufen: "Paul, komm zurück, die Brille ist hier in meiner Tasche." Der junge Mann war jetzt circa drei bis vier Schritte hinter der alten Dame und vielleicht 12 Meter vom Einlass entfernt. Omi begriff sofort die Situation: Wenn der junge Mann jetzt wieder auf den Einlass zuging, würde er sie nach wenigen Schritten überholt haben und knapp vor ihr durch den Sperre gehen. Und noch ehe sie das richtig zu Ende gedacht hatte, schritt der junge Mann mit jugendlich-elastischen Schritten an ihr vorbei. Der junge Mann hatte die alte Frau gar nicht bewusst wahrgenommen. Als er gerade an ihr vorübergegangen war, hörte er plötzlich dicht hinter sich einen kurzen, spitzen, durchdringenden Schrei und sah gerade noch, wie eine alte Dame in voller Länge auf das Pflaster schlug. Besorgt eilte er die paar Schritte zurück und beugte sich zu ihr nieder. 
"Ist ihnen etwas passiert?" fragte er ängstlich. 
Gerade in diesem Moment schlug sie die Augen wieder auf, die sie eigenartig verdrehte.
"Geht es Ihnen wieder besser?" wollte der junge Mann wissen. Die einzige Antwort die er bekam lautete: "Wasser, bitte, mein Herz." 

Als der junge Mann sich hilflos umschaute, zeigte die alte Dame auf eine bestimmte Stelle am nebenstehenden Gebäude. Richtig, dort befand sich ein Kiosk und der junge Mann machte sich auf, den Wunsch zu erfüllen. Noch bevor er den Kiosk erreicht hatte, rappelte sich die alte Dame wieder hoch, stand fest auf den Beinen und trippelte mit eiligen Schritten auf den Einlass zu, den sie als 10 000ste Besucherin durchschritt.
Fast im gleichen Augenblick erschienen aus dem anstehenden Gebäude mehrere Damen und Herren, Honoratioren der Stadt und der Ausstellungsleitung und mehrere Reporter. Omi Delchen wurde in dem üblichen Ritual geehrt und erhielt feierlich die Urkunde über die Indienreise und den obligatorischen Blumenstrauß und alle beglückwünschten sie herzlich.

Endlich erschien auch der junge Mann, das Glas Wasser immer noch in der Hand.
"Ich gratuliere Ihnen herzlich zu ihrem Glück," erklärte er, "und das Glas Wasser, denke ich, können sie jetzt erst recht gebrauchen, wenngleich ein Glas Sekt angebrachter wäre."

"Junger Mann," begann Omi Delchen, "ich habe ihnen gegenüber eine schlechtes Gewissen. Wären nicht die ganzen eigenartigen Umstände eingetreten, wären sie in den Genuss der Reise gekommen, es tut mir leid für sie."
"Da machen sie sich mal keine Sorgen," erwiderte dieser, "ich bin beruflich hier mit meiner Frau Wir waren schon sechs- oder siebenmal in Indien und werden aus beruflichen Gründen noch einige Male dorthin fliegen, Nein, das Schicksal hat schon recht entschieden. Ich freue mich für sie. Hoffentlich haben sie noch die gesundheitliche Kondition für diese Reise. Das ihnen nicht wieder ihr Herz einen Streich spielt. Obwohl," und Omi Delchen hatte den Eindruck, als ob eine kleines, spitzbübisches Lächeln dabei um seine Mundwinkel spielte, "obwohl so ein kleiner Herzanfall zur rechten Zeit ja auch sein Gutes haben kann, wie wir eben gesehen haben. Also alles Gute, gnädige, Frau und gute Reise!"

Damit entfernte er sich von ihr.

"Wie recht er hat," sagte Omi Delchen halblaut vor sich hin und strahlte über das ganze Gesicht dabei. 

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