Hinrich Jessen
oder
Eine gar nicht so traurige Friedhofgeschichte


Hinrich Jessen stand an seinem Wohnzimmerfenster und schaute auf die Straße. Aber er nahm gar nicht wahr, was dort vorging. Er war ganz in Gedanken versunken: Das hätte er nie gedacht, dass er mit 57 Jahren Rentner werden würde.
Über 20 Jahre hatte er als Arbeiter auf der Werft in Elsenby gearbeitet, der kleinen Stadt an der Ostsee, bis nach der deutschen Wiedervereinigung die Wirtschaftsflaute auch die Werften ereilte.

Durch Rationalisierung sollte die Werft gerettet werden. Und Rationalisierung bedeutete: Stellenabbau. Und da er, Hinrich Jessen, ledig war und oft schon Beschwerden mit seinem Kreuz hatte, hatte man ihm empfohlen, in Rente zu gehen, auch zugunsten jüngerer Kollegen, die Frau und Kinder zu versorgen hatten.

Obwohl er sehr an seinem Arbeitsplatz hing, hatte er schließlich ja gesagt. Aber erst nachdem er die Arbeit aufgegeben hatte, wusste er, was er verloren hatte. Die Arbeit war ihm nicht nur Gelderwerb gewesen, sondern ein Stück Lebensinhalt. Er hatte immer von 'seiner' Werft gesprochen­ Und wenn es in guten Zeiten galt, Überstunden zu machen, oder eine besonders schwere Arbeit durchzuführen, war Hinrich Jessen dabei gewesen.

So war ihm der Arbeitsplatz Broterwerb und Hobby zugleich. Dadurch hatte er nie ein wirkliches Hobby gepflegt. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, hatte er immer noch etwas in der Wohnung zu tun gehabt. Seine Schwester, die kinderlos verheiratet war und gleich um die Ecke wohnte, versorgte seinen Haushalt mit und kochte auch dreimal in der Woche für ihn. Daneben blieb aber immer noch einiges für ihn nach der Arbeit zu tun. Zeitung lesen und etwas Fernsehen, dann war der Tag für ihn bald vorüber, da er früh schlafen ging, weil er zeitig zur Arbeit musste. Außerdem war die Arbeit auch oft anstrengend gewesen, so dass er dann redlich müde war.
Einmal in der Woche, am Freitagabend, ging er in seine Stammkneipe, wo er mit einigen Bekannten klönte, sein Bier trank und Karten spielte. 

Das hatte sich jetzt nicht geändert. Seine Schwester bestand kategorisch darauf, weiter die Haushaltsarbeiten durchzuführen, dem Hinrich auch gern zustimmte, da die Arbeit im Hause nicht gerade seine Stärke war.
Hinrich Jessen wohnte in der Danzigstraße, relativ nah am Hafen, so dass er zur Arbeit zu Fuß hatte gehen können oder mit dem Fahrrad unterwegs war.
Jetzt wusste er nichts mit sich anzufangen. Seine Bekannten und Freunde waren alle gleichaltrig und noch nicht in Rente, so dass sie tagsüber nicht verfügbar waren.
Aus lauter Verzweiflung und Langeweile ging Hinrich Jessen nun fast jeden Tag zu Fuß zum Hafen, strich um 'seine' geliebte Werft herum, schaute auch ab und zu einmal herein, merkte aber bald, dass er in dem geschäftigen Treiben nur störte.

So hatte er sich angewöhnt, des öfteren auf dem Promenadenweg an der See entlang zu gehen, wo er in Höhe des Restaurant "Seeblick" in den Kurpark kam, der jetzt, in den Sommermonaten, sehr gepflegt war. Schließlich führte das kleine Städtchen vor seinem Namen die Bezeichnung 'Ostseebad'.

Im weitläufigen Wiesengelände waren große Blumenrabatten angelegt. Oft standen hunderte Blumenstauden derselben Art auf einem Beet, und in der Blütezeit war der Anblick eine reine Augenweide. Blühende Sträucher und Bäume, dazu das Rauschen des Meeres, ließen ihm jedes Mal das Herz weit werden.

Oft saß er lange Zeit auf einer Bank und sah dem Treiben der Leute zu, die dort spazieren gingen, oder er freute sich an dem eifrigen Gehoppel der zahlreichen Kaninchen, die hier, auf der grünen Wiese und an den vielen Pflanzen, ihre Lebensgrundlage fanden und gar nicht mehr scheu waren.
Das einzige, was ihm nicht gefiel, war die alte Kanone, die bei einem Kriegerdenkmal an den Dänenkrieg erinnerte. Heute sollte man Kriegerdenkmale ab-, und Friedensdenkmale aufbauen, pflegte Hinrich Jessen zu sagen.
Um aber in den Park zu kommen, musste er schon einen kleinen Gewaltmarsch unternehmen. Deshalb ging er hin und wieder auch auf dem seiner Wohnung nahe gelegenen Friedhof.

In den letzten Wochen war er fast täglich dort gewesen. Die meisten Gräber waren sehr gepflegt und mit vielen Blumenstauden und Sommerblumen bepflanzt, so dass der Friedhof, von den Grabmalen abgesehen, einem großen schönen Park glich. 

Freunde und Bekannte, die ihn des öfteren dort gesehen hatten, fragten ihn, ob es ihm nicht etwas eigenartig zu Mute sei auf dem Friedhof, bei so vielen Toten?
"Die Menschen unter der Erden sind friedlicher und verträglicher als die, die obendrauf wandeln," pflegte er mit einem feinen Lächeln zu sagen, und alle hatten ihm zustimmen müssen.
"Außerdem," erklärte er, "kann so ein Friedhofbesuch recht interessant und aufschlussreich sein. Man muss nur die Augen und Sinne offen halten."

Und das tat Hinrich immer. Der Friedhof war so angelegt, dass ein Weg einige Meter im Abstand an der äußeren Begrenzung verlief und somit eine Art Rundweg darstellte, der rechts neben dem Haupteingang begann und vor diesem wieder endete. Das war jedenfalls die Richtung, die Hinrich immer wieder einschlug.
Inzwischen hatte er sich nicht nur immer wieder an der Blumenpracht erfreut, sondern hatte auch die Grabinschriften studiert. Ganze Geschichten und Schicksale erzählten diese wenn auch nur knappen Inschriften, hatte er herausgefunden. Direkt rechter Hand, wenn er in den Rundweg hineinging, liegt das Grab des Schneidermeisters Walk und seiner Ehefrau, Emma Walk, geboren 1876, gestorben 1980. Einhundertundvier Jahre hatte diese Frau gelebt, und was mochte sie alles erlebt haben?

Etwas davor befand sich ein Grab, aus dessen Inschrift hervorging, dass dort ein Ehepaar lag. Der Ehemann war 25 Jahre älter als seine Frau gewesen, aber diese hatte ihn nur um 5 Jahre überlebt.

Auf einem anderen Grabstein war zu ersehen, dass Mann und Frau im Abstand von 5 Tagen gestorben waren. Eine Tragödie oder die große Liebe, wo einer ohne den anderen nicht mehr leben konnte oder wollte? Wer weiß es!
Recht nachdenklich stand Hinrich immer wieder vor dem kleinen Stein bei den Rasengräbern. Das sind Gräber, die in einer Rasenfläche angelegt sind und bei denen nur ein verhältnismäßig schmaler Streifen vor dem Grabstein mit Blumen bepflanzt wird.

Auf dieser kleinen Grabtafel stand nur der Name 'Christian' und aus dem Geburts- und Sterbeda­tum ging hervor, dass hier ein Kind begraben lag, das im Alter von fünf Jahren verstorben war.
Woran mag es gestorben sein, sinnierte Hinrich, eine tückische Krankheit, ein Unfall? Was hatte dieser Mensch wohl alles versäumt, und was war ihm unter Umständen alles erspart geblieben.
Und welches Leid für die Eltern, ein Kind zu verlieren.
Sehr angerührt war er, als eines Tages an diesem kleinen Grab ein buntbemalter Stein in Form ei­nes Maikäfers und ein Windrad aufgestellt waren. 
Liebe über den Tod hinaus! So entdeckte Hinrich Jessen immer Neues, was ihn zum Nachdenken und Zusammenreimen ganzer Geschichten veranlasste.

Ihm fiel auf, dass die meisten Grabinschriften nur die Namen und die Geburts- und Sterbedaten enthielten. Nur selten gab es Zusätze, die ihn manchmal recht nachdenklich stimmten. Da war zu lesen: 'Ruhe sanft!' Was in aller Welt, dachte er bei sich, soll hier sanft ruhen. Schließlich glaubt jeder anständige Christenmensch, dass er nach dem Tode in die himmlischen Regionen eingehen wird. Hier unten bleibt nur eine Hülle zurück. Nun ja, und die Atheisten dürften wohl kaum ein sanftes Ruhen annehmen können, da für sie mit dem Todes alles aus ist.
Auf anderen Steinen war vermerkt: 'Hier ruht in Gott.' Ob der Betreffende auch ein Leben in Gott geführt hatte, oder war der fromme Wunsch der Hinterbliebenen hier ausschlaggebend gewesen?
Die eindrucksvollste Inschrift, die er einmal auf einem Friedhof gelesen hatte, lautete vor der Namensangabe: "Hier wartet auf seine Auferstehung..." 

Mit solchen Gedanken beschäftigt, ging Hinrich Jessen des öfteren über den Friedhof. Fast schon am Ende des Rundweges blieb er meist vor einem Grabe stehen, an dessen Kopfseite ein riesiger Findling als Grabstein stand. Mit ehernen Lettern waren die Namen und Daten eingetragen.
Aus ihnen ging hervor, dass die Ehefrau fünf Jahre nach ihrem Mann heimgegangen war und zwei Jahre danach ihre gemeinsame Tochter.
Wie gut, dachte Hinrich, dass die Eltern den frühen Tod ihrer Tochter nicht mehr erlebt haben.
An dieser Stelle des Friedhofes machte der Rundweg eine Knick nach links, bevor er am Haupt­tor, ein Stück weiter, endete. Dann stand man ziemlich unvermittelt vor einem ganz anderen Teil des Friedhofes. Hinrich Jessen nannte diesen Teil bei sich das 'Ehrenfeld' in Anlehnung an die Soldatenfriedhöfe, die in vielen Gegenden als Ehrenfriedhöfe geführt werden, weil die Soldaten auf dem 'Felde der Ehre' gefallen sind, wie es heißt, Hier wurde Hinrich immer sehr nachdenklich. 176 Soldatengräber waren hier hufeisenförmig angelegt. Gräber ausschließlich von Männern im jungen und besten Alter.
Ob sie alle es als eine 'Ehre' aufgefasst hatten, 'für das Vaterland zu sterben.'?
Ob sie überhaupt noch die Zeit hatten, darüber nachzudenken, bevor der Tod sie ereilte?
Welche Tragik, fuhr es ihm jedes Mal durch den Sinn, wenn er vor dem Grabstein des jüngsten Soldaten stand: ganze siebzehn Jahre alt! Aus den anderen ging hervor, dass hier mehrere Soldaten lagen, die im Alter von gerade über zwanzig Jahren gestorben waren, aber auch Männer, Ehe­männer, Väter wahrscheinlich, im besten Alter hatten hier die letzte Ruhe gefunden.

Er selbst hatte nie geheiratet und so auch keine Kinder. Aber er stellte es sich als schwersten Schicksalsschlag vor, einen jungen, gesunden Sohn durch den Krieg zu verlieren, besonders deshalb, weil das kein unabwendbarer Schicksalsschlag , sondern lediglich bedingt ist durch die Willkür einiger Politiker.
Wie viel Leid, wie viel Kummer symbolisierten diese Gräber! Obwohl Hinrich selbst keine Kinder hatte und selbst zu jung gewesen war, um noch Soldat im 2. Weltkrieg zu werden, konnte er sich doch gut in eine solche Situation hineinversetzen.

Nie hatte er den Tag vergessen, an dem seine Familie die Nachricht bekam, dass sein älterer Bruder vor Leningrad gefallen war. Noch heute, nach fast 50 Jahren, hatte er das verzweifelte Weinen seiner Mutter im Ohr. 
Wie ist so etwas möglich, dachte er oft, dass sich Tausende und Abertausende Menschen in einen Krieg schicken und umbringen lassen. Denn noch nie in der Weltgeschichte hat ein Volk einen Krieg begonnen, sondern immer die Herrscher, meist um ihrer ureigensten Interessen willen. Was müssen Eltern empfinden, die zwanzig Jahren lang einen Sohn umsorgen, erziehen, die mithoffen und -leiden und dann ihr Kind im Krieg verlieren, weil ein Politiker glaubt, Geschichte machen zu müssen.
Lange stand er oft vor den Gräbern, auf deren Stein nur vermerkt ist: Hier ruht ein unbekannter Soldat. Welch ein Schicksal! Wie lange mögen eine Mutter, ein Vater, eine Braut, eine Ehefrau oder Kinder gehofft haben, dass er doch noch zurückkommen würde und wo dann langsam die Hoffnung erstarb.
Wie grausam ist das Schicksal, pflegen wir oft zu sagen. "Nein" erklärte Hinrich Jessen bei Gelegenheit, "nicht das Schicksal, wir, die Menschen, sind grausam!" 

Der Gang über den Friedhof berührte ihn sonst nicht negativ. Die Menschen, die hier begraben lagen­ gen, hatten meist ihr Leben vom Zeitablauf hinter sich oder, die Frühverstorbenen waren von ihrem Schicksal eingeholt worden, das zwar nicht grausam, aber blind ist. Ihr Tod war in der Regel nicht mit Schuld verknüpft. Aber hier, bei den Soldaten hatten nicht das Schicksal und nicht die Stimme Gottes gesprochen, sondern hier lagen Opfer. 
Vielleicht auch manches freiwillig gebrachte Opfer, aber dennoch: Opfer. Mancher mag fröhlich in den Krieg gezogen sein und ist elendiglich umgekommen. Und wie viele wären zu Hause geblie­ben, wenn sie eine Wahl gehabt hätten. Und wie viele hätten ihre Meinung geändert, wenn sie um das Kriegsende gewusst hätten!

Dass Hinrich Jessen über all dies manchmal doch sehr nachdenklich wurde, ist verständlich. Hinzu kam, dass das 'Ehrenfeld' an sich einen trostlosen Eindruck vermittelte. Während die anderen Gräber alle wohlgepflegt und mit reichem Blumenschmuck bedacht waren, lagen diese 176 Gräber in einem stets kurzgeschorenen Wiesengrundstück ohne jeden Schmuck. Keine Blume, kein Strauch zierte das einzelne Grab. Die Grabmale, alle genormt: ein niedriger, grauer Zementstein, in denen mit schwarzer Farbe die Daten und Namen und das 'Eiserne Kreuz' eingraviert waren, aber alles war schon etwas verwittert und verblichen.

Da haben diese jungen Menschen ihr Leben gelassen, letztlich für uns alle, und während das Grab der alten Dame, die das gesegnete Alter von 104 Jahren erreicht hatte, wohlgepflegt und mit reichem Blumenschmuck bedacht ist - so soll es auch sein - berührte es Hinrich Jessen doch jedes Mal eigenartig, wenn er die schmucklosen Grabstätten der Soldaten betrachtete.

An einem Tag, an dem er besonders lange in solchen Gedanken versunken noch bis in die Abendstunden auf dem Friedhof gewesen war, hatte er in der Nacht einen Traum. Ihm träumte, dass er wie üblich seinen Rundgang über den Friedhof machte. Als er nach dem großen Findlings­stein die Wegbiegung hinter sich gelassen hatte und plötzlich vor dem 'Ehrenfeld' stand, war er völlig überrascht: Die Grabsteine waren alle leuchtend weiß gestrichen, die Inschriften erneuert und vor jedem Grab befand sich, wie bei den Rasengräbern, ein etwas breiterer Streifen mit blühenden Blumenstauden. 
Hinrich war ganz überwältigt. "Ja, so sollten die Gräber der Soldaten aussehen" rief er laut und völlig überrascht aus, worauf er durch sein eigenes Reden plötzlich aufwachte.
Tagsüber, bis zur Mittagszeit, war er recht nachdenklich. Dann mit einem Male, war es für ihn ganz klar, dass er was tun musste: Die Gräber schmücken. das musste er tun. Aber wie sollte das geschehen? Von seiner bescheidenen Rente könnte er bestenfalls jeden Monat ein Grab mit drei oder vier Stauden bepflanzen. Bei 176 Gräbern ein aussichtsloses Unterfangen. Aber mit einem Male kam ihm eine Idee. Ja, das müsste gehen. In Ungeduld wartete er auf die hereinbrechende Dunkelheit, die jetzt, im Monat Juni, in der Sommerzeit, oft erst gegen 22 Uhr eintrat. 

Hinrich Jessen hatte am Nachmittag sein Fahrrad aus dem Keller geholt und es auf dem Hof deponiert. Gegen 23 Uhr, als es recht dunkel geworden war, klemmte er den großen Drahtkorb auf den Gepäckträger des Fahrrads, den er sonst nur brauchte, wenn er seinen großen Einkauf machte, legte in den Korb einen kurzen Spaten, wie ihn Campingleute oft mit sich führen und ein kleines Gerät zum Harken und bedeckte das alles mit einem Tuch.
Dann schwang er sich auf sein Rad und fuhr in Richtung Stadt bis zum Musikpavillon im Kurpark. Hier lehnte er sein Fahrrad an die Mauer und schaute sich vorsichtig um.
Wie er vermutet hatte, war um diese Zeit, schon kurz vor Mitternacht, niemand mehr in der Anlage zu sehen. Hinrich nahm seinen Korb samt den sich darin befindlichen Utensilien und ging auf eine Blumenra­batte zu. Es war ein großes Feld mit gelbblühenden Tagetes-Blumen.
Hinrich schaute sich noch einmal vorsichtig um, und, als er niemanden gewahrte, grub er rasch und geschickt Blumenstauden aus dem Beet, bis sein Korb gefüllt war. Dabei achtete er darauf, dass er nur die Blumen ausgrub, die am Rand standen. Die entstandenen Löcher füllte er wieder mit Erde aus der Umgebung, harkte alles wieder sorgfältig gerade, so dass selbst eine aufmerk­same und informierte Person das Fehlen der Blumen nicht bemerkt hätte.

Er verstaute den Korb wieder auf seinem Fahrrad, deckte alles sorgfältig mit dem Tuch zu, und fuhr seinen Weg zurück. Er fuhr aber an seiner Wohnung vorbei, wo, am Ende des bebauten Teils der Straße, der Friedhof begann. Dieser war in der Nacht zwar verschlossen, aber Hinrich kannte inzwischen jeden Winkel des Geländes und wusste auch um das Loch in der Umzäunung am hinteren Teil des Friedhofs. Mit seinem Rad fuhr er bis zu dieser Stelle, stellte dieses am Zaun ab, kroch durch das Loch, wobei er seinen Korb und die Werkzeuge mitnahm und ging zielgerichtet auf das 'Ehrenfeld' zu. Hier nahm er das Tuch vom Korb, und begann beim ersten Grab fachgerecht die Grasnarbe in ei­nem etwas breiteren Streifen abzuheben, lockerte den Boden und pflanzte fünf oder sechs Blütenstauden vor den Grabstein.

So verfuhr er noch bei drei weiteren Gräbern, dann war sein Blumenvorrat zu Ende. Zufrieden betrachtete er sein Werk, räumte seine Utensilien zusammen, brachte die Grasnarben zum Abfall - es sollte alles seine Ordnung haben - und ging den beschriebenen Weg zurück.
So gut wie in dieser Nacht, es war inzwischen etwa 2 Uhr geworden, hatte er lange nicht mehr geschlafen. Erst gegen 10 Uhr am Morgen wachte er auf.

Dieser Ablauf wiederholte sich in den nächsten fünf Tagen in jeder Nacht. Achtzehn Gräber hatte er bepflanzt, jeweils mit unterschiedlichen Blumen. Fast zehn Wochen würde er noch brauchen, wenn er im gleichen Tempo weiterarbeiten würde. Das erschien ihm zu lange und er beschoss, seine nächtlichen Fahrten insofern auszuweiten, dass er noch mehr Pflanzen bei einer Fahrt mitnehmen konnte.
Aber es sollte anders kommen. Am nächsten Tag, einem Samstag, schlug er die Elsenby'er Zeitung auf und las zu seinem Erstaunen folgenden Artikel:

Schöne Soldatengräber.

Wer den Südfriedhof in Elsenby besuchte und an den Soldatengräbern vorbeikam, dem wird es vielleicht aufgefallen sein: recht schmucklos liegen die Gräber da.
Das ändert sich nun offensichtlich. Etwa zwanzig Gräber sind inzwischen mit Blumenschmuck versehen. Wir konnten zwar noch nicht erfahren, wer die Aktion veranlasst hat, die Stadverwaltung oder die Friedhofaufsicht. Jedenfalls finden wir die Idee unbedingt bejahenswert und werden die Aktion weiter verfolgen und darüber berichten.

Neben den Artikel befand sich ein Foto von den bepflanzten Gräbern. Es sieht wirklich gut aus, dachte Hinrich bei sich. Über den Artikel machte er sich keine weiteren Gedanken. Man wird es lesen und bald wieder vergessen, nahm er an. Hier allerdings hatte er sich geirrt. Denn auch die Beamten der Stadtverwaltung und der Direktor des Friedhofs hatten diesen Artikel gelesen.

Letzterer, Herr Direktor Hansen, war außer sich. "Wer hat das veranlasst?" schrie er laut in seinem Büro, bekam aber keine Antwort, weil sich außer ihm niemand im Büro befand. Sofort setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zum Friedhof.
Nach einigen Suchen fand er Herrn Süverkamp, den Friedhofsgärtner. 
Wer ihn beauftragt habe, die Blumen auf die Soldatengräber zu pflanzen, fuhr er ihn an. Dieser beteuerte in aller Unschuld, dass er die Bepflanzung bisher noch nicht einmal wahrgenommen habe, da er seit vierzehn Tagen im hinteren Teil des Geländes zu tun gehabt habe.
"Ich will wissen," erklärte Direktor Hansen, "was hier vor sich geht. Süverkamp, beobachten sie genau, was hier weiter geschieht. Merken sie sich genau, wieviele Gräber bepflanzt sind, und wenn die Sache weitergeht, benachrichtigen sie mich sofort."

Dazu hatte Herr Süverkamp schon am Montagmorgen Gelegenheit, denn Hinrich hatte seine Aktivitäten ohne Unterbrechung fortgesetzt.
"Jemand muss des nachts die Bepflanzung vornehmen," erklärte der Gärtner, " denn am Samstagabend war die Lage unverändert. Am Sonntagmorgen, ich bin extra noch einmal zu den Gräbern gegangen, waren weitere vier Gräbstätten bepflanzt und ebenso heute morgen." 
Direktor Hansen benachrichtigte daraufhin die Polizei. In der Nacht von Montag auf Dienstag fuhr Hinrich Jessen in seiner Beschäftigung fort.
Er hatte gerade ein Grab bepflanzt, als plötzlich zwei uniformierte Polizisten hinter dem Gesträuch hervortraten.
"Halt, bleiben sie stehen," riefen sie laut und aufgeregt, obwohl Hinrich keinerlei Anstalten zur Flucht gemacht hatte.
"Was machen sie hier?" herrschte ihn der ältere der beiden Beamten an. "Nun," erklärte Hinrich in typischer norddeutscher Gelassenheit, "ich bepflanze die Soldatengräber, wie sie sehen."
"Und warum das mitten in der Nacht?" fragte dieser lauernd zurück. Hinrich, der gar kein schlechtes Gewissen hatte, antwortete in einem Anflug von Humor: "Weil die Rechte nicht wissen soll, was die Linke tut."
"Sie kommen mit, zur Vernehmung aufs Revier," erklärte der Polizist barsch, griff ihn unsanft beim Handgelenk und zog ihn mit sich fort, während sein Kollege die liegengebliebenen Utensilien mitnahm.

Auf dem Revier wurden zunächst die üblichen Formalitäten, Personenüberprüfung usw., durchgeführt­ führt. Dann wollte der Beamte wissen: "Warum haben sie das gemacht, und vor allen Dingen, wo haben sie die vielen Blumenstauden her?"
"Das ist schnell beantwortet," ließ sich Hinrich vernehmen. "Ich habe das gemacht, weil ich es un­gerecht finde, das gerade die Soldatengräber so schmucklos daliegen. Und die Blumen, nun die habe ich von den Blumenrabatten im Kurpark geholt."

"Die Sache ist klar," erwiderte der Beamte kurz angebunden, "hier liegt zweifelsfrei ein Diebstahl vor, vielleicht noch Sachbeschädigung und widerrechtliches Eindringen in ein befriedetes Grund­stück. Aber das wird die Staatsanwaltschaft entscheiden."
Hinrich glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, er, ein Dieb? Nein, nahm er sich vor, er wollte sich nicht beunruhigen lassen, wegen einer guten Tat konnte man doch nicht bestraft werden? Heißt es nicht in der Bibel sinngemäß, dass der, welcher Gutes tun kann und nicht tut, dass es dann Sünde ist? Aber so richtig zur Ruhe kam er nicht. Nun war Hinrich Jessen vielleicht nicht der Allerschlauste, aber zu helfen wusste er sich.
Noch am gleichen Tage rief er bei der Elsenby'er Zeitung an.
Ob man interessiert sei zu erfahren, wer die Bepflanzung an den Soldatengräbern vorgenommen habe? Und als er mit kurzen Worten andeutete, was er unternommen hatte und was ihm widerfah­ren war, war eine halbe Stunde später ein Reporter in seiner Wohnung.

Am nächsten Tag konnte Hinrich wiederum einen Artikel in der Zeitung lesen. Sogar ein Bild von ihm war dabei. Er hatte gar nicht richtig registriert, dass der Reporter ihn auch fotografiert hatte.
Im dem Bericht wurde hervorgehoben, dass weder die Stadt- noch die Friedhofverwaltung die Aktion angeordnet hätten, - wie es ihnen doch gut gestanden hätte - sondern dass ein rühriger Rentner in einer Nacht- und Nebelaktion, aber in überaus guter Absicht, die Ausschmückung vorgenommen habe. 
Dass er die Blumen dazu aus den Anlagen des Kurparks geholt habe, sei sicherlich ein ungewöhnlicher Einfall, aber dass Hinrich Jessen nun dafür des Diebstahls angeklagt werden solle, stoße wohl kaum auf allgemeines Verständnis und das Gericht möge bedenken, dass es doch einmal - ohne jeden spöttischen Unterton - richtig sein kann zu sagen und danach zu handeln: "Der Zweck heiligt die Mittel"

Als Hinrich zwei Tage später zum Friedhof ging, betrübt darüber, dass er nun seine Aktion nicht fortsetzen könne und die Gräber ohne Schmuck bleiben würden, blieb er erstaunt am Haupttor stehen, weil sich am 'Ehrenfeld' mindestens 20 -30 Personen zu schaffen machten.
Einige unterhielten sich angeregt, andere waren dabei, wie Hinrich schon von weitem sehen konnte, einzelne Gräber mit Blumen zu bepflanzen. Hinrich Jessen war total verwirrt, er wusste gar nicht, was er denken sollte. Da er ja letztlich der Urheber der ganzen Sache war, zog er es vor, bevor man ihn gewahrte, wieder zurückzugehen.

Am nächsten Tag las er in der Zeitung, dass die Aktion des Rentners Hinrich Jessen rege Nachahmer gefunden habe und wenn es so weitergehe wie in den letzten beiden Tagen, seien bald alle Soldatengräber mit Blumen geschmückt. Die Blumenzentren hatten schon Sonderpreise für Blumen angeboten, die auf die Soldatengräber gepflanzt werden sollten. Zwei Grabmahlunternehmungen hatten erklärt, dass sie kostenlos die Grabsteine restaurieren würden. Hinrich konnte sich eines leichten Schmunzelns beim Lesen des Berichtes nicht erwehren. So ganz unmöglich war sie wohl doch nicht gewesen, seine Nacht - und Nebelaktion.
Aber der Gedanke, bald vor Gericht zu müssen, bedrückte ihn doch sehr. Schließlich war er bisher ein unbescholtener Bürger gewesen, und nun würde er vielleicht vorbestraft sein! Aber nein, sagte er sich selbst, für solch eine gut gemeinte Tat kann man doch nicht bestraft werden.
Da war aber die Staatsanwalt ganz anderer Meinung, was Hinrich einige Tage später erfuhr, als ihm die Anklageschrift zugestellt wurde. Richtig begriff er nicht alles, was da geschrieben stand. Aber doch soviel, dass er u.a. wegen Diebstahls angeklagt wurde. Bald darauf erhielt er auch die Ladung zum Termin.
Auch die Zeitung hatte von der Ladung erfahren und brachte einen Tag zuvor einen weiteren Artikel. Ein Bild noch einmal von Hinrich und ein Bild vom 'Ehrenfeld' auf dem zu Hinrich's großer Befriedigung zu sehen war, dass alle Gräber mit reichlichem Blumenschmuck versehen waren.

Es war an einem Dienstagmorgen, als Hinrich Jessen dass Gerichtsgebäude betrat. Er hatte es noch nie von innen gesehen, obwohl er schon Jahrzehnte in dieser Stadt wohnte. Die alten Gewölbe, die breiten Gänge, das alles war ihm ein bisschen unheimlich. 
Am meisten verwirrte ihn, dass, je näher er dem Saal 87 kam, wo die Verhandlung stattfinden sollte, viele Personen im Flur warteten. Plötzlich trat sogar ein Reporter hervor und schoss ein Foto von dem verdutzten Hinrich. Jetzt erst begriff er, dass die vielen Leute seinetwegen gekommen waren um an der Verhandlung teilzunehmen.

Als die Leute ihn erkannt hatten, redeten sie ihm gut zu: Niemand könne sich vorstellen, dass er wegen einer so guten Tat verurteilt werden könne, und er solle nicht zu ängstlich sein, ein gutes Selbstvertrauen sei in seinem Fall vor Gericht sehr wichtig. Einen guten Anwalt hätten sie sich nehmen sollen, meinte ein anderer, man könne nie wissen. Am besten klein beigeben, wusste wieder ein anderer.
Als endlich der Aufruf zur Verhandlung erging, war Hinrich ziemlich verwirrt. Der Zuhörerraum füllte sich bis auf den letzen Platz, das trug nicht gerade zur inneren Beruhigung des Rentners bei.
Der Richter und zwei Schöffen, alle in ihren dunklen Roben gekleidet, erschienen Hinrich recht bedrohlich. Was konnte er von diesen anonym wirkenden Menschen erwarten? Aber dann nahm er sich vor, sich nicht zu sehr beeindrucken zu lassen. Sein Gewissen klagte ihn nach wie vor nicht an, und das schien ihm das Wichtigste zu sein.

Nachdem die Personalien festgestellt und die Zeugen belehrt worden waren, verlas der Staatsan­walt die Anklageschrift:
Der Rentner Hinrich Jessen, geboren am 12.4.1936 in Hannover, wohnhaft in Elsenby, wird angeklagt, in Tateinheit folgende Straftaten begangen zu haben: 
1.) Mehrfachen Diebstahl, indem er in mindestens 6 Nächten aus dem Kurpark in Elsenby über 100 Blumenstauden entwendete um sie sich rechtswidrig zuzueignen.
2.) unbefugtes Eindringens in ein befriedetes Besitztum, nämlich des Friedhofes an der Danzigstraße, ebenfalls zu wiederholten Malen.
3.) Störung der Totenruhe, indem er sich nächtlicherweise unberechtigt an den Soldatengräbern zu schaffen machte.
Strafbar gemäß §§ 242, 123, und 168 STGB.
Hinrich hatte atemlos dem Staatsanwalt zugehört. Erst jetzt, in dem offiziellen Rahmen, begriff er richtig, was hier gegen ihn vorging.
"Angeklagter, was haben sie dazu zu sagen. Stimmt das , was der Herr Staatsanwalt vorgetragen hat?
Hinrich schaute zum ersten Mal den Vorsitzenden des Gerichts voll an, und in dem Augenblick sah er nicht mehr den Richter in der schwarzen Robe, sondern einen älteren Herrn, der, wie es ihm plötzlich schien, gar nicht streng, sondern recht menschlich und wohlwollend wirkte.
Das befreite Hinrich etwas von seinen Hemmungen, er stand auf und antwortete laut und vernehmlich, wenn auch noch unsicher:
"Nein, das heißt ja, ich meine..." "Sie müssen sich schon entscheiden, Herr Jessen," unterbrach ihn der Richter, "stimmt es nun, oder nicht. Und bleiben sie ganz ruhig und überlegen sie, was sie zu sagen haben. Und sitzen bleiben können sie auch" 
"Jawohl, Hochwürden," antwortete Hinrich.
"Sie sind hier nicht in der Kirche," antwortete der Richter mit einem leichten Schmunzeln, "sondern im Gericht. Wenn sie mich anreden wollen, genügt es, wenn sie Herr Richter oder Herr Vorsitzender sagen."

"Jawohl, Herr Vorsitzender," erwiderte Hinrich, der sich inzwischen innerlich etwas gefangen hatte, "ich meine folgendes: Es stimmt nur, dass ich die Blumen aus dem Kurpark geholt habe. Aber angeeignet, wie der Herr dort drüben gesagt hat, habe ich sie mir nicht. Ich habe sie nur vom Kurpark zum Friedhof gebracht und dort eingepflanzt.
Und das mit dem Eindringen in ein friedliches Grundstück..." "Sie meinen ein befriedetes Besitztum" unterbrach ihn der Richter milde. 
"Ja eben. Sehen sie, 'eindringen' brauchte ich ja gar nicht, das Loch im Zaun ist schon mehrere Monate dort und ist so groß, dass man geduckt ohne Mühe hindurchgehen kann.
Na ja, und die Totenruhe gestört? Das verstehe ich überhaupt nicht. Es war eine richtige heilige Stille auf dem Friedhof, mitten in der Nacht, und ich habe alles sorgfältig hergerichtet."
Hinrich hatte mehr und mehr sicherer und ruhiger gesprochen. 
Als er geendet hatte, schwieg der Richter, der während der Rede von Hinrich erstaunt die Stirn hochgezogen hatte, einige Augen­blicke. Dann erklärte er: "Herr Jessen, ich habe den Eindruck, dass sie bedeutend klüger und geschickter sind, als sie es uns im ersten Eindruck vermitteln wollten. Erzählen sie uns doch einmal. warum sie die ganze Sache durchgeführt haben."

"Das war nur," sagte Hinrich jetzt gefasster, "weil es mir leid tat und ich es als ungerecht empfand, dass gerade die Soldatengräber, also von Männern, die für uns alle ihr Leben gelassen haben, so schmucklos dalagen."
"Herr Jessen, das klingt ja recht ehrenwert. Aber sie wussten doch, dass es nicht richtig war, die Blumen aus dem Kurpark zu holen. Sonst hätten sie ja ihre Aktion auch nicht gerade in der Nacht durchgeführt."

"Ja, das stimmt. Ich habe mir gedacht, dass die Kurverwaltung damit nicht einverstanden gewesen wäre. Aber von meiner Rente hätte ich die vielen Blumen nicht kaufen können, und im Kurpark fiel es eben gar nicht auf, wenn die Blumen fehlten."
"Sagen sie mal, Herr Jessen," wollte der Richter wissen, "was haben sie mit den Blumen sonst noch gemacht. Haben sie vielleicht auch Bekannten welche abgegeben oder verkauft, oder für ih­ren Garten verwendet?"
"Aber nein," erwidert Hinrich empört. "Erstens hat von meiner Aktion niemand gewusst, und zweitens: ich selbst habe keinen Garten. Nein, ich bin vom Kurpark immer stracks zum Friedhof gefahren."
"Gut, Herr Jessen, ich möchte dann erst einmal die Zeugen hören. Zunächst den Vertreter der Friedhofverwaltung."
Nachdem der Zeuge eingetreten und die Personalien und die Vertretungsberechtigung festgestellt worden waren, stellte der Richter seine Frage: "Ist der Kurverwaltung durch das Handeln des Herrn Jessen ein Schaden entstanden?"
"Nicht direkt," erklärte der Zeuge, "indirekt schon, weil ja der Blumenbestand reduziert worden ist. Direkt aber nicht, weil wir von dem Entwenden der Blumen nichts bemerkt haben und diese auch nicht ersetzt werden brauchten. Deshalb hat die Kurverwaltung auch keine Anzeige erstat­tet."
"Könnte man sagen," fuhr der Richter fort, "dass Herr Hinrich im Kurpark eine Sachbeschädigung begangen hat, da er sich ja schließlich an den gepflegten Beeten zu schaffen gemacht hat."
"Nein, das kann man wohl nicht sagen. Die Stellen, wo die Blumen entnommen wurden, waren wieder so akkurat hergerichtet, dass man das Verschwinden der Blumen, wie schon erklärt, nicht bemerkte."
"Danke, keine weiteren Fragen. Der nächste Zeuge, Herr Süverkamp."

Der Zeuge trat ein. "Herr Süverkamp, der Angeklagte, Herr Jessen, behauptet, dass das Friedhofsgelände durch das bewusste Loch im Zaun ohne Mühe zu betreten war. Was haben sie dazu zu sagen?"
"Nun ja, das stimmt schon," erklärte der Friedhofsgärtner. "Wir haben vor einigen Monaten das Loch selbst in den Zaun hineingeschnitten, weil wir mit einer größeren Fuhre Torf nicht über das ganze Gelände fahren wollten. Ja, und dann ist das Loch halt offen geblieben. Es ist schon so groß, dass man bequem hindurchschlüpfen kann."
"Herr Süverkamp, noch eine Frage. Als Herr Jessen seine Tätigkeit gezwungenermaßen einstellen musste, hatte er etwa zwanzig Soldatengräber bepflanzt. Wie war der Zustand dieser Gräber. Ich meine, war das alles ordentlich, oder lagen da Staudenreste, Erde oder Grasnarben herum?"
"Nein, absolut nicht. Die Blumen waren ganz fachgerecht eingepflanzt worden. Besser hätte ich es auch nicht machen können. Und der Angeklagte, ich meine, Herr Jessen, hatte alles sauber hergerichtet, sogar die Grasnarben hatte er zum Abfallplatz gebracht, wie ich später festgestellt habe."
"Danke, keine weiteren Fragen. Hat die Staatsanwaltschaft Fragen? Das ist nicht der Fall. Ich schließe hiermit die Beweisaufnahme. Herr Staatsanwalt, ich bitte um ihre Ausführungen."

Der Staatsanwalt, ein junger Mann, hatte mit unbeweglichen Gesicht den bisherigen Verlauf der Verhandlung verfolgt.
Nun stand er auf und begann in einem etwas überheblich klingenden Ton seine Ausführungen: "Die Staatsanwaltschaft ist der Ansicht, dass der Angeklagte in allen Punkten der Anklage überführt ist."
Hinrich Jessen begriff kaum, was der Staatsanwalt ausführte. Nur so viel begriff er, der Mann hielt ihn für schuldig und wollte seine Verurteilung. Erst zum Schluss der Ausführungen des Staatsan­waltes konnte er wieder folgen: "Darum meine ich," hörte er den Beamten sagen, "dass Herr Jessen mit einer empfindlichen Geldstrafe belegt werden sollte, deren Höhe ich dem Ermessen des Gerichtes überlasse." Er schwieg einen Augenblick, ohne sich zu setzen. Er kniff die Lippen zusammen, überlegte offensichtlich einen Augenblick und erklärte dann weiter: "Ich möchte noch darauf hinweisen, dass es sich nach der Auffassung der Staatsanwaltschaft hier keineswegs um eine Art 'Ehrendelikt' handelt, das zufällig strafbar ist. Hier liegt eine eindeutige Gesetzesübertre­tung vor, die auch bestraft werden muss. Hier steht kein Wohltäter vor Gericht, sondern ein Gesetzesbrecher, auch wenn die Öffentlichkeit das anders zu sehen scheint." 
"Ich danke ihnen für ihre Ausführungen, Herr Staatsanwalt. Sie, Herr Jessen, haben nun das letzte Wort. Wollen sie noch etwas sagen?"
Hinrich Jessen, nun erst recht verwirrt, erhob sich wieder. Als der Richter im andeutete sich zu setzen, sagte er: " Ich weiß schon, Herr Vorsitzender, aber ich möchte das letzte Wort im Stehen sagen, so wie der Herr Staatsanwalt. Ich will ehrlich sagen, was ich empfinde. Ich sehe ein dass ich die Blumen nicht einfach aus dem Kurpark hätte holen dürfen. Aber die schmucklosen Soldaten­gräber, wissen sie, die ließen mich einfach nicht in Ruhe. 
Schuldig vor meinem Gewissen fühle ich mich nicht. 
Aber wenn ich Gesetze übertreten habe und bestraft werden muss, dann will ich die Strafe auf mich nehmen. Jetzt, wo das Ehrenfeld so schmuck daliegt, ist mir das die Sache wert."

"Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück , ich nehme an, dass wir in etwa einer halben Stunde das Urteil verkünden", erklärte der Richter und verließ mit den Schöffen den Saal. Sofort setzte ein lautes Reden ein. "Gut , Hinrich Jessen, haben sie das gesagt!" rief jemand.
"Nur Mut, Herr Jessen," ein anderer, "wir stehen hinter ihnen." 
Langsam verebbte das Reden und nur ein leises Geraune war zu hören, man wurde sich nicht einig, wie das Urteil aussehen könnte. Einige verließen den Saal, um sich die Füße zu vertreten Nach einer halben Stunde füllte sich der Saal wieder. Aber Die Richter kamen nicht. Über eine Stunde dauerte die Beratung. Im Saal wurde eifrig darüber diskutiert, ob das zum Vor- oder Nachteil des Angeklagten sei. "Je länger, desto besser," meinte einer, der sich in Gerichtsdingen auskannte, unbedingt schlecht, meinte eine alte Dame zu wissen.
Endlich, nach einer Stunde und zehn Minuten traten die Richter wieder ein.
Das übliche Zeremoniell erfolgte, der Richter setzte seine Kopfbedeckung auf, die Anwesenden erhoben sich von ihren Sitzen und der Vorsitzende Richter erklärte:
"Im Namen de Volkes wird folgendes Urteil verkündet
Der Angeklagte Hinrich Jessen wird wegen erwiesener Unschuld in allen Anklagepunkten freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Landeskasse." Hier musst der Richter seine Ausführungen unterbrechen, da ein vernehmliches zustimmendes Raunen im Saal hörbar wurde und einige Zuhörer zaghaft aber vernehmlich 'Bravo' riefen.
"Ich mache darauf aufmerksam, dass im Gerichtssaal keine Beifallskundgebungen erwünscht sind, ich bitte um Ruhe," sagte der Richter streng, um dann halblaut hinzuzufügen: "obwohl ich sie verstehe, meine Damen und Herren.

Aber nun die Begründung des Urteils:
Zum 1. Anklagepunkt: Diebstahl. Wie der Angeklagte schon selbst , fast intuitiv ausführte, gehört zu einem Diebstahlsvorwurf, dass der Betreffende zu irgendeinem Zeitpunkt die Absicht hatte, sich die Sache 'zuzueignen.' Das heißt, sie in seinen Besitz zu nehmen um sie zu gebrauchen, minde­stens aber um sie in seinem Besitz zu halten oder um sie zu veräußern. Der Angeklagte hat glaubhaft nachgewiesen, dass er diese Absicht nie gehabt hat, und aus dem Tathergang ist dies auch zu schließen. Das Gericht geht davon aus, das Herr Jessen die Blumen unmittelbar vom Kurpark zum Friedhof gebracht hat, allein zu dem Zweck, die Gräber der Soldaten zu verschö­nern. 
Damit hat er sich die Blumen nicht angeeignet, wie es Voraussetzung für eine Diebstahl ist. Er hat die Blumen lediglich von einem öffentlichen Park in einen anderen verpflanzt, was zwar ungewöhnlich, aber nicht strafbar ist. Er musste in diesem Punkt freigesprochen werden. 
Anklagepunkt 2: Eindringen in ein befriedetes Besitztum. Entscheidend ist hierbei die Definition des Eindringens. Eindringen setzt voraus, dass ein Hindernis, dass ein Eindringen in das Besitztum verhindern soll, etwa ein Zaun oder ein Tor, überwunden wird, indem man darüberklettert oder z.B. ein Loch in einen Zaun schneidet.
Das ist in diesem Fall nicht geschehen. Auch der Zeuge Süverkamp hat bestätigt, dass das Loch im Zaun vorhanden war und man ohne Schwierigkeiten das Gelände betreten konnte. Man könnte dem Angeklagten eventuell ein unerlaubtes Betreten des Friedhofgeländes vorwerfen, weil das Betreten ab Einbruch der Dunkelheit nicht erlaubt ist. Aber das ist eine Ordnungswidrigkeit und fällt nicht in die Zuständigkeit des Gerichtes. Der Angeklagte musste deshalb auch in diesem Punkte freigesprochen werden.
Punkt 3 der Anklage: Störung der Totenruhe.
Ich denke, dazu braucht nicht viel ausgeführt zu werden. Wenn es möglich wäre, müsste man sagen, dass die Ruhe der Toten eher gefördert als gestört worden ist. Ich habe die Gräber selbst in Augenschein genommen, es sieht jetzt sehr würdig und schön aus, und friedlich. Herr Jessen war auch in diesem Anklagepunkt freizusprechen."
Hinrich Jessen hatte mit immer größer werdenden Staunen den Ausführungen des Richters zugehört. Er begriff endlich: er wurde nicht bestraft, er war als unschuldig im Sinne des Gesetzes befunden worden. Hier wurde er von dem Richter in seine Gedanken unterbrochen:
"Herr Jessen, wollen sie das Urteil annehmen? Sie können auch Berufung gegen das Urteil einlegen."
"Annehmen?" meinte dieser fassungslos, "natürlich nehme ich das Urteil an, ich danke ihnen; Herr Richter." "Gut, und die Staatsanwaltschaft?" Der Staatsanwalt hatte seine Lippen wieder zusam­mengekniffen, dann sah er, wie erwartungsvoll der ganze Saal an seinem Munde hing. "Die Staatsanwaltschaft," erklärte er stockend, nimmt das Urteil " -hier stockte er eine Augenblick- "an" 
"Damit ist das Urteil rechtskräftig," verkündete der Richter. "Herr Jessen," fuhr er fort, "wenn ich ihnen jetzt, nach Beendigung des Verfahrens gewissermaßen etwas von Mensch zu Mensch raten darf: Ich selbst bin mit dem Urteil durchaus zufrieden. Aber in Zukunft sollten sie trotz allem Guten, das sie vorhatten, bedenken, wie sie dies auf einem legaleren Weg durchführen können. Bei etwas weniger Einsichtsbereitschaft des Gerichtes hätte die ganze Sache für sie doch böse ausgehen können. Wissen sie, gut gemeint ist nicht immer auch gut getan. Ich wünsche ihnen aber alle Gute!"

Als sich Hinrich Jessen umschaute, war er erstaunt, dass der Saal fast schon vom Publikum geräumt war. Noch etwas benommen und beeindruckt von all dem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, ging er zum Ausgang. Er war ganz in Gedanken versunken bis an die doppelte Flügeltüre, die nach draußen führte, gegangen, ohne einen Blick nach vorn zu werfen. 

Als er die Türe öffnete, sah er plötzlich ein große Menschenmenge vor sich, die unten auf dem Bürgersteig stand. Irgend jemand rief: "Hinrich Jessen lebe hoch, hoch, hoch," und alle hatten eingestimmt. Hinrich wusste gar nicht, wie ihm geschah. Dann kam ein älterer Herr die Stufen zur Eingangstür hinauf, stellte sich vor Hinrich Jessen auf und begann: "Herr Jessen, wir, die Bürger von Elsenby, wollen ihnen unsere Sympathie erklären. Wir freuen uns und gratulieren ihnen zu dem gerechten Urteil. Sie haben uns zunächst einmal sehr beschämt. Was sie an den Soldatengräbern getan haben, hätten wir alle schon längst in Angriff nehmen sollen. Aber wir wollen das, was wir versäumt haben, nachholen, oder besser gesagt, wir haben es schon in gewisser Weise getan. Die Gräber auf dem Ehrenfeld, das haben sie schon selbst gesehen, Herr Jessen, sind alle bepflanzt. Aber die Arbeit geht weiter. Deshalb haben wir inzwischen einen "Verein zur Pflege der Soldatengräber in Elsenby" gegründet. Die Gründungsversammlung hat schon gestern Abend stattge­funden. Aber einen ersten Vorsitzenden haben wir noch nicht gewählt. Alle Anwesenden waren der Meinung, dass dieser Vorsitzende Hinrich Jessen heißen sollte." 
"Jawohl, unbedingt, so soll es sein," und ähnliches scholl Hinrich Jessen entgegen.

"Ja, wenn sie meinen," konnte er gerade noch sagen, dann packten ihn einige Männer, hoben ihn auf ihre Schultern und brachten ihn ins Stadt-Cafe`, wo man in den hinteren Räumen sofort eine Sitzung des neuen Vereins abhielt, wo in geheimer Abstimmung Herr Hinrich Jessen einstimmig zum ersten Vorsitzenden gewählt wurde. 


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