Hendrik
oder
Der Lebensretter

Hendrik wurde im September 1934 geboren. Das Ereignis, das lebensrettend für die ganze Familie werden sollte, spielte sich im November 1944 ab, also kurz nach seinem 10. Geburtstag.

Hendrik war ein ungewöhnlich aufgeweckter, intelligenter und cleverer Junge, ohne altklug zu sein und das einzige Kind seiner Eltern. Die Familie hatte ein gutes und herzliches Verhältnis miteinander und sie waren recht zufrieden. Das Einzige, was Hendrik manchmal halb spaßig halb im Ernst beanstandete war, dass man ausgerechnet den Allerweltsnamen Meier trug.

Man erinnere sich: Herbst 1944, der 2. Weltkrieg tobte in seiner Endphase. Aber noch beherrschte und tyrannisierte der Nationalsozialismus das deutsche Volk. Herr und Frau Meier, die Eltern von Hendrik, waren keine Nazis. Herr Meier war vielmehr ein ausgesprochener Regimegegner. Natürlich hatte er das nie laut werden lassen, das wäre sein Todesurteil gewesen. Die Gefängnisse und Konzentrationslager waren voll von sogenannten 'Volksschädlingen'.
Trotz aller Vorsicht schwebte Frau Meier oft in Todesängsten, vor allem deshalb, weil ihr Mann regelmäßig im Radio ausländische Sender hörte, im Sprachgebrauch der Nazis 'Feindsender' genannt.

Zu dieser Zeit musste sich an jedem Radioapparat ein Hinweis befinden, aus dem hervorging, dass das Anhören von Feindsendern bei Todesstrafe verboten war. Auch Hendrik wusste von dieser verbotenen und lebensgefährlichen Aktion. Aber sein Vater war sich sicher, dass der Junge sich nirgendwo verplappern würde. Die Meiers wohnten in einer Siedlung in dem Vorort einer Ruhrrevier Großstadt in der Rüdesheimerstraße 17.
In der Stadt betrieb Herr Meier ein mittelgroßes Schreibwaren - und Bürobedarfsgeschäft. Durch seine Selbständigkeit war er in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer nationalsozialisti­schen Organisation freier als ein Arbeiter in einem Betrieb oder ein Angestellter im Büro einer Fabrik, die stark von der Partei kontrolliert und unter Druck gesetzt wurden, so dass manch einer Mitglied in der Partei wurde, ohne ideell dahinter zu stehen.

Da Herr Meier eine schwere Tbc. durchgemacht hatte, war er nicht kriegsverwendungsfähig und konnte während des gesamten Krieges in der Heimat bleiben. Da er auch jetzt manchmal noch gesundheitliche Schwierigkeiten hatte, half ihm seine Frau des öfteren im Geschäft.

Hendrik war schon in der Rüdesheimerstraße geboren worden und dort aufgewachsen. Er hatte viele Freunde in der Schule und in der Nachbarschaft. Hier hatte sich eine besondere Freundschaft ergeben. Den Meiers schräg gegenüber, Rüdesheimerstraße 21, wohnt ebenfalls eine Familie Mayer, die sich allerdings mit ay schreibt. 
Aufgrund der Namensgleichheit war es schon oft zu lustigen Verwechslungen gekommen, so dass sich die Familien näher kennen lernten und sich befreundeten.

Diese Familie hatte auch einen Sohn, Wilfried, ebenfalls 10 Jahre alt, der von Schicksal nicht gut bedacht worden war. Wilfried war Spastiker. 

Er hatte spät das Laufen gelernt, und wenn er jetzt umherging und sich mit seinen verrenkten Gliedern stolpernd fortbewegte, hatte man den Eindruck, dass er jeden Moment hinfallen würde, was glücklicherweise aber nur selten geschah. Auch das Sprechen machte ihm große Mühe. Er sprach zwar richtiges Deutsch, aber die einzelnen Worte kamen meist abgehackt und stockend über seine Lippen. Dabei war er keineswegs geistig behindert. Natürlich war es für solch einen Jungen schwer, überhaupt einen Freund zu finden, besonders in dieser Zeit, wo behinderte Menschen schnell als unwertes Leben eingestuft wurden und der Euthanasie verfielen.
Hendrik und Wilfried aber waren echte Freunde. Da die Familien sich gut kannten und die Kinder von kleinauf zusammen gewesen waren, hatte sich Hendrik an das Anderssein seines Freundes gewöhnt und nahm daran keinen Anstoß. Im Gegenteil, beide verstanden sich gut.

Schon früh hatte Hendrik begonnen, den Freund nachzuahmen. Dann ging er mit seltsam verrenkten Gliedern durch sein Zimmer und amte die stockende Sprechweise seines Freundes nach. Seine Mutter war zunächst entsetzt gewesen, als sie dessen gewahr wurde. Aber als Hendrik älter geworden war, erklärte er seinen Eltern, dass er keineswegs seinen Freund nachäffte. Er zeige nur, wie sein Freund ist und außerdem könne er sich dann erst richtig vorstellen, wie es Wilfried zu Mute sein müsse in seiner Behinderung. Mit dieser Erklärung hatte es seine Mutter auch gut sein lassen.

An dem besagten Tag im November 1944 saßen Herr und Frau Meier zusammen im Wohnzimmer und lasen in der Zeitung. Hendrik befand sich nebenan im Kinderzimmer und bastelte.

Gegen 20,30 Uhr klingelte es zweimal anhaltend an der Haustüre. Frau Meier ging, um zu öffnen. Vor der Türe standen zwei Männer in schwarzen Ledermänteln und dunklen Hüten. Ohne etwas zu sagen drängten sie in das Haus und schlossen die Türe hinter sich. Jetzt erst erklärten sie: "Geheime Staatspolizei, wir wollen ihren Mann sprechen."
Die Gestapo, wie sie im Volksmund genannt wurde, war die Organisation, die dafür sorgte, dass deutsche Bürger, die dem Regime unbequem waren, meist unter fadenscheinigen Vorwänden, verhaftet wurden und als 'Volksfeinde' oder 'Volksverräter' in den Gefängnissen oder KZ's endeten.

Frau Meier, die diese Zusammenhänge nur zu gut kannte, war bei der Nennung der Bezeichnung Geheime Staatspolizei tief erschrocken. Sie wusste, was das bedeutete, ihre schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. 
Schließlich führte sie die Männer ins Wohnzimmer. Herr Meier war aufgestanden. Die Gestapo Leute wiederholten ihren Spruch: "Geheime Staatspolizei, Herr Meier, wir wollen zu ihnen. Es liegt gegen sie eine Anzeige vor wegen Abhören von Feindsendern und sie wissen, was das bedeutet."
"Natürlich, aber wie kommen sie zu so einer wahnwitzigen Beschuldigung? Das ist völlig aus der Luft gegriffen, wie kam die Anzeige denn zustande?"

"Nun," erklärte einer der Männer, sie haben in ihrem Geschäft eine Bemerkung gemacht, die nur jemand wissen konnte, der den Feindsender gehört hat. Es handelte sich um die angebliche Stellung der deutschen Truppen im Osten, eine Meldung, die über keinen deutschen Sender gelaufen ist. Was haben sie dazu zu sagen, Herr Meier?"
Das Gehirn des Herrn Meier hatte in dieser kurzen Zeit fieberhaft gearbeitet. 
Er wusste, dass es jetzt auf jedes Wort ankam, wenn er heil aus dieser Situation herauskommen wollte.
"Ach so, " sagte er und er versuchte seiner Stimme einen leichten Klang zu geben, "die Sache ist schnell erklärt. Diese Bemerkung habe ich von einem Kunden übernommen, natürlich ohne zu ahnen, woher sie stammt."
"Sie hören also keinen Feindsender, Herr Meier?"

Bevor dieser antworten konnte war einer der Gestapo Männer auf das Radio zugegangen, drehte an dem Einstellknopf und sofort ertönte laute Jazzmusik. Ein Musikstil, der damals als entartete Kunst gebrandmarkt worden war und von keiner deutschen Radiostation gesendet wurde. Es war eindeutig, hier spielte ein englischer Sender. Herr Meier war zu Tode erschrocken. Damit hatte er nicht gerechnet.
"Nun, Herr Meier," sagte der Gestapomann zynisch, "erzählen sie mir nur nicht, dass der Sender zufällig beim Staubwischen oder Hantieren eingestellt worden sei. 
Sie wissen so gut wie ich, dass diese Sender nur mit einiger Mühe einzustellen und zu empfangen sind. " 
Herr Meier öffnete hilflos seinen Mund, weil er den Eindruck hatte, dass es jetzt besser sei irgend etwas zu sagen als gar nichts.

Aber in diesem Moment wurde die Türe zum Kinderzimmer aufgestoßen und ein offensichtlich spastischer Junge trat ins Wohnzimmer, wobei er mit seltsam verrenkten Gliedern sich stolpernd vorwärts bewegte, auf das Radio zuging und in stockender, aber klarer Sprechweise hervorstieß: "Ach, Vati hast du auch... den Sender eingestellt,... den ich immer... höre wenn du und Mutti im Geschäft seid? Die haben immer ... so eine tolle Musik drauf. Die hör ich gern... Und ich kann sogar... den Sender ganz klar... einstellen."
Mit diesen Worten steuerte er weiter auf das Radio zu. Aber bevor er das Gerät erreichte, hatte der Gestapomann es ausgeschaltet und sich davor postiert.
"Ist das ihr Sohn?" fragte er.
"Natürlich, allerdings," antwortete der verdutzte Vater, "das ist unser Sohn"
"Na, dann sind sie gestraft genug. Also gut, ich will annehmen, dass dieser Kretin hier die Wahrheit sagt und es sich so abgespielt hat, wie er es gesagt hat. Aber ich warne sie, Herr Meier. Wir werden sie weiter beobachten und bei dem geringsten Verdacht unnachsichtig durchgreifen." Damit schritten die beiden Männern zur Türe und verließen das Haus.
Als die Türe sich hinter ihnen geschlossen hatte, stürzte Herr Meier auf seinen Sohn zu. "Hendrik, weißt du, was du soeben gemacht hast? Mit etwas Glück hast du mir und wahrscheinlich uns allen das Leben gerettet. Wie kamst du nur auf diese Idee?"

"Ich habe doch oft genug gehört, wie Mutter dich gewarnt hat was passieren würde, wenn es herauskommt, dass du Feindsender hörst.. Und da habe ich mir gedacht, weil ja alle einen Spastiker für einen Idioten halten, dass man mir, wenn ich glaubhaft spiele, nichts anhaben kann und du nicht belangt werden kannst. Und wie du siehst, hat es ja auch geklappt. 

Und den Wilfried habe ich ja oft genug imitiert, und Meier heißen wir schließlich auch."
Natürlich bangte sie Familie noch, ob die ganze Sache nicht doch noch auffliegen würde. 
Hätte sie das Gespräch der beiden Gestapoleute am nächsten Tag in deren Büro mit den Kollegen gehört, wären sie beruhigter gewesen.

Als die beiden Männer von ihrer abendlichen Aktion berichteten, fragte einer von ihnen die Kollegen: "wusstet ihr eigentlich, dass die Meiers so einen Krüppel als Sohn haben?" Worauf einer, der informiert schien, antwortete: "Meinst du die Mayers in der Rüdesheimerstraße? Ja, die haben so einen gestörten Jungen. Eigentlich sollte der schon lange in staatlichen Obhut sein, aber die Familie hat das immer zu verhindern gewusst." Damit war das Thema für sie erledigt.
Was später aus dem Ehepaar Meier und aus Hendrik geworden ist, ist uns nicht bekannt. Aber so viel wissen wir, dass sie den Krieg unbeschadet überstanden haben.

Und sie werden noch oft dankbar dafür gewesen sein, dass sie ausgerechnet den Allerweltsnamen Meier tragen. 

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