DIE DAME IN SCHWARZ
oder
Ein zart-rosaroter Brief


Er spürte, wie die Müdigkeit langsam in ihm hoch kroch und seine Augenlider befallen wollte. Lothar Wichmann öffnete die Türe seines Wagens, stieg aus, reckte sich und holte tief Atem in der frischen, kühlen Morgenluft des Märztages.
Wie die meisten Taxifahrer liebte er den Nachtdienst nicht, deshalb war er froh, dass in zwei Stunden Feierabend sein würde. Plötzlich hörte er das Piepsen des Funkgeräts.

Er betätigte das Gerät, und die Zentrale meldete sich und gab Anweisung, zum Hauptbahnhof zu fahren, wo in circa einer viertel Stunde ein Zug aus München eintreffen würde. Dort war meist noch eine gute Fahrt zu bekommen.
Lothar Wichmann hatte in wenigen Minuten den Hauptbahnhof erreicht und kam als Dritter in der Reihe der wartenden Wagen am Taxenstand zu stehen.
Schon kurz nach seinem Eintreffen lief der Zug ein und bald darauf kamen die ersten Fahrgäste aus dem Bahnhofgebäude.
Zwei Herren gingen zielstrebig auf die vor Lothar Wichmann stehenden Taxen zu, stiegen ein und die Wagen setzten sich in Bewegung.
Lothar Wichmann ließ den Motor an, um den Wagen als ersten am Taxistand zu platzieren. Er war gerade die wenigen Meter gefahren und hatte den Motor noch nicht abge­stellt, als es an die Seitenscheibe des Wagens auf der Fahrerseite klopfte.

Im ersten Moment konnte er in der Morgendämmerung nur den dunklen Umriss einer menschlichen Gestalt erkennen, dann sah er, dass eine schwarz gekleidete Dame, die einen Hut mit einem Schleier trug, der ihr ganzes Gesicht bedeckte, an seinem Wagen stand. Er ließ die Seitenscheibe des Wagens herunter und eine dunkle Frauenstimme erklärte: "Fahren sie mich bitte nach Eppendorf, Marktplatz 7." Ehe er reagieren konnte, hatte die Dame bereits die Türe zum hinteren Fahrgastraum geöffnet, eine längliche Reisetasche auf den Sitz geschoben und war selbst eingestiegen, schlug die Wagentüre zu und sagte: "Sie können losfahren."

Eppendorf ist ein Vorort der Stadt und der Taxifahrer freute sich, noch eine gute Fahrt bekommen zu haben, danach würde dann Dienstschluss sein. Die Fahrt verlief schweigend. Lothar Wichmann hatte von der Kleidung und der ganzen Ausstrahlung der Frau her den Eindruck, dass diese aus besonders guten Verhältnissen stammen musste, obwohl die Adresse, die sie angegeben hatte, in einer einfachen Gegend lag.
Nach etwa zwanzig Minuten war das Fahrtziel erreicht. Lothar Wichmann stellte fest, dass die Nummer 7 in dieser Straße an einer großen Toreinfahrt angebracht war, vor der er den Wagen anhielt. Es war eine wenig befahrene Straße.
Er beugte sich vor, um die Fahrtenuhr abzulesen, als die Dame ihre Hand, sie trug schwarze Handschuhe, auf seine Schulter legte und erklärte: 
"Ich habe den Fahrpreis schon ablesen können. Es tut mir leid, aber ich habe nicht genug Geld bei mir. Ich gehe eben in meine Wohnung und hole Geld. Warten sie bitte einen Augenblick. Meine Tasche nehme ich mit, wenn ich wiederkomme."

Die Dame in Schwarz öffnete die Wagentüre, stieg aus und verschwand durch den Torbogen. Lothar Wichmann wunderte sich, dass eine Frau, die offensichtlich aus guten Verhältnissen kommen musste, nicht genügend Geld bei sich hat, um den Fahrpreis zu bezahlen. Aber seine lange Erfahrung als Taxifahrer hatten ihn soviel seltsame Dinge erleben lassen, dass er sich kaum noch über etwas wunderte.
Als die Dame nach fünf Minuten nicht zurückgekehrt war, wurde er etwas unruhig. Als sie nach weiteren fünf Minuten immer noch nicht erschien, wurde ihm klar, dass hier etwas nicht stimmte, obwohl er sich mit dem Gedanken tröstete, dass die Dame ihre Tasche zurückgelassen hatte, so dass man damit rechnen konnte, dass sie wiederkommen würde.
Er stieg aus den Wagen, ging durch die Toreinfahrt und befand sich in einem größeren Innenhof, von dem mehrere Türen in die verschiedenen Wohnungen führten. Da aber keines der Fenster erleuchtet war, konnte er nicht ausmachen, in welche Wohnung sich sein Fahrgast befinden könnte.

Als er sich näher umsah, bemerkte er, dass auf der rechten Seite, im rechten Winkel zu dem Torbogen, zu dem er hereingekommen war, sich ein zweiter befand, der zu einer belebteren Straße führte.
Er ging durch diesen Torbogen und sah, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Taxistand befand. Hier stand noch ein Wagen, der Fahrer saß hinter dem Steuer. Lothar Wichmann ging zu seinem Kollegen und fragte ihn, ob er eine schwarz gekleidete und verschleierte Dame gesehen habe.
Dieser antwortete, dass solch eine Frau vor etwa zehn Minuten durch die Toreinfahrt gekommen, an das Taxi seines Kollegen herangetreten und mit diesem offensichtlich wohl in Richtung Innenstadt fortgefahren sei.
Lothar Wichmann bedankte sich für die Auskunft und ging verwirrt zu seinem Wagen zurück. Er konnte sich das Verhalten der Dame nicht erklären. Warum ließ sie sich aus der Innenstadt in einen Vorort bringen und fuhr dann, ihre Reisetasche zurücklassend, ohne die Rechnung zu bezahlen, mit einem anderen Taxi wieder zur Innenstadt zurück? Das ergab keinen Sinn. Unter diesen Gedanken war er zu seinem Wagen zurückgekehrt. Als er die Wagentüre öffnete, dachte er zunächst, dass er das Radio angelassen hätte, da ihm ein lautes Geräusch entgegenscholl. Im gleichen Augenblick war ihm aber bewusst, dass er den Apparat nicht eingeschaltet hatte.
Es dauerte einige Momente bis er begriff, dass er Kindergeschrei vernahm und dass dieses offensichtlich von der hinteren Fahrgastbank ausging.

Er öffnete die Türe und sah die von der Dame zurückgelassene Tasche und bemerkte jetzt, dass es sich nicht, wie er vermutet hatte, um eine Reisetasche, sondern um eine Babytragetasche handelte, in der er jetzt das rosige Gesicht eines Säuglings erblickte, der aus Leibeskräften schrie. Er war einige Augenblicke ganz verstört und hilflos, nahm schließlich in seiner Hilflosigkeit die Tasche in beide Hände und wiegte sie hin und her, wie er es oft bei Müttern mit ihren Kleinkindern gesehen hatte und sprach ein paar sinnlose Worte wie "Da, da, da, ja, ja, ja," die er mehrere Male wiederholte und sagte dann: " Nun sei einmal ganz ruhig, mein kleiner Liebling"
Und tatsächlich stellte das Kind das Schreien ein, schloss die kleinen Augen und schlief wieder. Lothar Wichmann betätigte das Funksprechgerät und sprach mit seiner Zentrale und teilte dort mit, was ihm widerfahren war und erklärte schließlich: "Deshalb mache ich jetzt Schluss und fahre erst einmal zu meiner Frau, die wird sicher Rat wissen."
Das Ehepaar Wichmann war seit zehn Jahren verheiratet, glücklich verheiratet. Beide hatten sich Kinder gewünscht, aber der Nachwuchs wollte sich zunächst nicht einstellen. Endlich, nach siebenjähriger Ehe, wurde Frau Helene schwanger. Aber das Kind starb noch im Mutterleib. Es ergaben sich ernstliche Komplikationen, die dazu führten, dass Frau Wichmann kein Kind mehr erwarten konnte. Schweren Herzens hatten sich schließlich beide damit abgefunden.
Lothar Wichmann fuhr auf dem kürzesten Weg zu seiner Wohnung, seine Frau Helene war gerade aufgestanden und erwartete ihn, hatte das Frühstück schon bereitet.
Das Kind hatte nicht mehr geschrieen, auch als er es mit in die Wohnung nahm, schlief es noch fest.
"Nanu, hast du eine Tasche gefunden?" wunderte sich seine Frau.
"Nicht nur eine Tasche, sondern auch ein Kind dazu."
Mit kurzen Worten schilderte er seiner Frau, was geschehen war. Inzwischen meldete sich das Kind wieder mit leisem Gequengel.
"Es ist mir zwar völlig unverständlich, wie eine Mutter ihr Kind aussetzen kann, aber bevor wir darüber weiter nachdenken, wollen wir erst einmal das Kind versorgen." sprach's und hob das Kind aus der Tasche. Frau Wichmann, eine resolute und praktisch veranlagte Frau, die sich in ihrer Schwangerschaft gut auf ein Kind vorbereitet hatte, wusste genau, was zu tun war.
Sie stellte fest, dass sich in einem Seitenfach der Tasche alles befand, um das Kind zu versorgen, saubere Windeln und Creme ebenso, wie eine gefüllte Flache mit Milch.
"Na, dafür hat sie wenigstens gesorgt" murmelte sie vor sich hin und begann, das Kind auszuwickeln und zu reinigen. "Es ist ein Junge" erklärte Frau Helene lachend ihrem Mann, "und ein strammer dazu!"
Dieser hatte etwas hilflos daneben gestanden und war froh, dass seine Frau die Angelegenheit so problemlos und tatkräftig in die Hand nahm. Frau Wichmann hatte übersehen, dass, als sie das Kind aus der Tasche nahm, ein Briefumschlag zu Boden gefallen war, den ihr Mann inzwischen aufgehoben und geöffnet hatte, er war mit zart-rosaroter Schrift geschrieben und steckte in einem dazu passenden Umschlag.
"Hör einmal, Helene," begann er, "es lag ein Brief in der Tasche, ich lese ihn dir vor."
"Nun bin ich wirklich gespannt, was man uns da mitzuteilen hat," antwortete seine Frau.
"Ich danke Ihnen," begann Herr Wichmann zu lesen, "dass sie sich meines Kindes angenommen haben. Ich weiß, dass ich kein Verständnis für meine Handlungsweise erwarten darf, bitte aber darum, sorgen sie dafür, dass mein Kind in gute Hände kommt. Ich wusste keinen anderen Ausweg. Ich wollte mein Kind nicht irgendwo aussetzen ohne die Gewissheit zu haben, dass es sofort gefunden wird. Deshalb kam mir die Idee mit der Taxe.
Mein Junge heißt Marko, er wurde am 3. Februar dieses Jahres geboren, ist also erst eineinhalb Monate alt. Er ist gesund und kräftig. Ich bin gewiss, dass sie sich meines Kindes annehmen werden.
M.R. Eine unglückliche Mutter.

Die Buchstaben M.R. sind in Großbuchstaben und der ganze Text in einer zart-.rosaroten Schrift geschrieben," erklärte Herr Wichmann. "Wahrscheinlich die Initialen dieser Frau.
Aber ich sehe gerade, es gibt noch einen Nachsatz. Hier steht:
0Ich wollte sie nicht um ihr Fahrgeld prellen, darum lege ich 500 DM für ihre Unkosten und die Erstversorgung meines Kindes bei.
Im übrigen werden sie bemerken, dass von der rechten unteren Ecke dieses Schreibens ein Stück Papier abgerissen ist. Ich werde es sorgfältig aufbewahren und ich nehme an, dass die Person, die sich endgültig meines kleinen Marko annehmen wird, auch diesen Brief sorgfältig aufhebt. Sollte es einmal notwendig werden, kann dieser kleine Papierabschnitt beweisen, dass ich die Mutter von Marko bin.
Damit endet der Brief," ließ sich Herr Wichmann vernehmen.
Als er den Briefumschlag näher betrachtete, bemerkte er, dass sich das Geld darin befand.
"Nun, dumm und arm scheint die Mutter des kleinen Marko nicht zu sein" erklärte Frau Helene. "Wer weiß, welch unglücklicher Umstand sie zu diesem Schritt getrieben hat."
Sie hatte inzwischen den kleinen Marko versorgt, und sie, die sich immer ein Kind gewünscht hatte, war glücklich, sich um das Kind kümmern zu können, das nun wohlversorgt in den Armen der Frau lag und sein Fläschchen trank.
"Und was machen wir nun?" fragte ihr Mann, dem die ganze Sache noch immer unverständlich war.
"Wir machen das ganz Normale, du telefonierst mit der Polizei, diese wird das Jugendamt verständigen und dann geht alles seinen Weg, du wirst sehen."

So war es auch. In den nächsten Stunden und Tagen gaben sich Polizei und Behördenvertreter die Türe in die Hand.
Herr Wichmann hatte der Polizei alles genau geschildert, was er erlebt hatte. Da er aber nichts Konkretes wusste, nicht einmal wie die Mutter des Kindes ausgesehen hatte, machte die Polizei wenig Aussichten, die Frau ausfindig zu machen. Die Vertreter des Jugendamtes erklärten schließlich, dass der kleine Marko in ein Kinderheim gebracht werden müsse, damit er fachgerecht versorgt würde.
"Das kommt gar nicht in Frage," erklärte Frau Wichmann daraufhin resolut, "soll die Polizei zunächst intensiv nach der Mutter forschen. Führt das in den nächsten vier Wochen zu keinem Ergebnis, sehen wir weiter. Bis dahin bleibt Marko bei uns."
Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes erklärte zwar, dass diese Entscheidung allein beim Amt liege, da das Ehepaar Wichmann aber gut beleumundet sei, werde man den Antrag wohlwollend prüfen. So blieb Marko zunächst bei dem Ehepaar.
Nach vier Wochen erklärte die Polizeibehörde, dass man in der Ermittlung im Fall 'Marko' nicht weitergekommen sei und kaum Aussicht auf ein positives Ermittlungsergebnis bestehe. Damit stand auch die Frage nach dem Verbleib des Kindes neu an.

Das Ehepaar Wichmann war sich längst darüber klar und einig, dass Marko bei ihnen bleiben solle. So war es nicht schwer, die vorläufige Pflegeerlaubnis für das Kind zu bekommen. Sollte innerhalb eines Jahres die Mutter immer noch nicht ausfindig gemacht worden sein, würde das Kind zur Adoption freigegeben.
Herr und Frau Wichmann belasteten sich aber nicht mit Zukunftsplänen. Sie hatten den Kleinen so schnell lieb gewonnen und ganz in ihr Herz geschlossen, dass sie fast befürchteten, dass die Mutter wieder auftauchen könnte, weil sie, sicherlich nicht ganz zu Unrecht, bezweifelten, ob eine Frau, die ihr Kind aussetzt, wirklich die Qualitäten hat, die zur liebevollen Erziehung eines Kindes erwartet werden müssen.

Der kleine Marko gedieh prächtig. Es zeigte sich, dass er ein außergewöhnlich liebes Kind war, das wenig Mühe machte. 
Nach einigen Monaten war es ihnen so ans Herz gewachsen, dass sie sich nur mit Mühe vorstellen konnten, dass Kind einmal abgeben zu müssen.
"Ich glaube, Gott hat uns das Kind ins Haus geschickt. Und in einem höheren Sinn sind nicht die die Eltern, die ein Kind gezeugt und geboren haben, sondern die, die es lieben und sich um es sorgen," pflegte 'Mutter Wichmann', wie ihr Mann sie neuerdings scherzhaft zu nennen pflegte, zu sagen, wenn die Frage aufkam, wo das Kind am besten aufgehoben sei.
Nach einem Jahr trat das ein, was das Ehepaar erhofft und erwartet hatte. Die Herkunft des Jungen blieb weiter ungeklärt und nach menschlichen Ermessen war nicht damit zu rechnen, dass jemals eine Klärung stattfinden werde. Als das Kind zur Adoption freigegeben wurde, war es für alle keine Frage, dass das Ehepaar Wichmann die Adoptiveltern für Marko werden sollten.
Frau Wichmann bezeichnete diesen Tag als den glücklichsten ihres Lebens. "Wir dürfen nicht nur ein Kind haben, sondern auch noch ein gutes Werk tun," kommentierte sie das Ganze in ihrer praktischen Art. Ihr Ehemann war glücklich, seine Frau so froh zu sehen und liebte das Kind se "Eigentlich müsste er Mose heißen, der kleine Marko," erklärte er einmal lachend. "Wenn ich ihn auch nicht aus dem Wasser gezogen habe, aber eigenartig und wunderbar war es doch, dass ich den Wurm in meinem Taxi gefunden habe. Zwar kommt er nicht gerade an einen Königshof, aber gut soll er es bei uns haben." Aber es schien, als ob das Glück nicht nur in die Herzen eingezogen war. Auch im Äußeren veränderte sich für das Ehepaar die Situation mehr und mehr zum Positiven. Herr Wichmann konnte sich als Taxiunternehmer selbständig machen und hatte nach 4 Jahren eine großes Taxiunternehmen aufgebaut, das wirtschaftlich auf festen Boden stand. 

"Marko hat uns Glück gebracht," pflegte Frau Helene zu sagen und doch blieb in ihrem Herzen eine leise Unruhe, wie sie Menschen oft verspüren, die den Eindruck haben, dass sie so viel Glück nicht verdienen und es deshalb auf die Dauer nicht anhalten könne. Aber nach und nach verflüchtigte sich das Gefühl und die Familie verlebte einige fröhliche und unbeschwerte Jahre, in denen Marko der Mittelpunkt war, ohne das er verwöhnt worden wäre.
Die resolute Frau Wichmann war eine Mutter, die viel Liebe geben aber auch konsequent in ihren Forderungen sein konnte. Gepaart mit einer praktischen Intelligenz und einem Mann, der sie sehr liebte und in manchen Dingen gerne seiner Frau den Vortritt ließ, ohne seine Männlichkeit einschränken zu müssen, war sie den Umständen nach die beste Mutter, die man für das Kind wünschen konnte. 
"Nun, glücklich, Mutter Wichmann?" fragte der Ehemann eines Tages seine Frau, als diese mit Marko spielte. "Ich wüsste nicht, was mir noch zu meinem Glück fehlen könnte, seitdem ich Mutter bin," erwiderte sie strahlend und nahm Marko fest in ihre Arme Einige Tage vor dem sechsten Geburtstag von Marko ging Herr Wichmann, wie jeden Morgen bevor er das Haus verließ, an den Briefkasten. Unter der Post befand sich ein Brief, der sofort seine höchste Aufmerksamkeit erregte. Er war adressiert an Herrn und Frau Wichmann und trug auf der Rückseite als Absender nur die beiden großen Buchstaben: M. R. Herr Wichmann war sich sofort darüber im klaren, von wem der Brief kam und einen Augenblick lang war er in der Versuchung, den Brief zu vernichten weil er befürchtete, dass das Glück, das sie so genossen und ihr Leben zum Positiven verändert hatte, zerstört werden könnte. Aber er wusste auch, dass es in der Regel sinnlos ist, Problemen auszuweichen, weil sie einem irgendwann doch einholen und dann oft schwerer zu bewältigen sind, als wenn man sie sofort angeht. 
"Helene," sagte er zu seiner Frau, "sieh dir diesen Brief an." Als Frau Wichmann die zwei großen Buchstaben sah, erblasste sie. "Was sollen wir tun? " fragte ihr Mann verzweifelt. "Öffne den Brief, es ist immer das Beste, die Wahrheit zu wissen, erst dann kann man sich ihr stellen entsprechend handeln." Mit leicht zitternden Fingern öffnete er den Brief und las: 
"Sehr geehrte Frau Wichmann, sehr geehrter Herr Wichmann. Natürlich wissen Sie längst, von wem dieser Brief geschrieben wurde, darum will ich gleich zum Wesentlichen kommen. Nein, nein, sie haben nichts zu befürchten. Ich weiß und akzeptiere, dass ich keine Rechte mehr habe, weder an Sie noch an Marko. Ganz abgesehen davon, dass ich erhebliche strafrechtliche Konsequenzen zu erwarten hätte, wenn ich mich als Mutter von Marko offenbaren würde. Verzeihen Sie, dass ich mich gegen meine ursprüngliche Absicht doch noch einmal an Sie wende. Aber trotz allem was geschehen ist, ich bin auch eine Frau mit mütterlichen Gefühlen. Ich habe nur den einen Wunsch und die letzte Bitte, mein Kind einmal zu sehen, natürlich ohne dass es erfährt, wer ich bin. Ich verspreche Ihnen, dass ich dann fernerhin nicht mehr mit Ihnen Kontakt aufnehmen werde. Bitte erfüllen Sie einer unglücklichen Frau diesen innigen Wunsch! Wenn Sie einverstanden sind, kommen Sie bitte am Donnerstag dieser Woche gegen 17 Uhr in das Café Royal. Dort können wir dann alles weitere besprechen. Ihre dankbare M.R. P.S. Sie werden mich ohne Mühe erkennen, ich werde eine ähnliche schwarze Kleidung tragen wie an jenem schicksalsträchtigen Tag vor sechs Jahren. 

"Was sagst du nun?" fragte Herr Wichmann seine Frau, nachdem er seine Lesung beendet und zuletzt mit immer leiser werdender Stimme das handschriftliche Schreiben entziffert hatte. "Was soll ich dazu sagen," antwortete seine Frau durchaus gefasst. "Ich habe den Eindruck, dass diese Frau es ehrlich meint, wir werden die Begegnung mit ihr herbeiführen. Vielleicht erfahren wir bei dieser Gelegenheit, welches Schicksal sie zu diesem Verzweiflungsschritt getrieben hat. Ich sagte es schon einmal: Es ist immer besser, Probleme sofort auszutragen, als sie vor sich herzuschieben. Irgendwann wird man doch mit ihnen konfrontiert, und dann ist eine Lösung meist um so schwieriger. Und vielleicht ist es ohnehin besser, wenn wir etwas über die Herkunft von Marko erfahren." "Genau das Gleiche ging mir durch den Sinn, als ich den Brief sah." Herr Wichmann atmete erleichtert auf, als er sah, wie beherzt und praktisch seine Frau das Problem anging. In diesen Dingen neigte er dazu, die Tragfähigkeit seiner Frau zu unterschätzen. 
Am Donnerstag traf das Ehepaar Wichmann Punkt 17 Uhr im Café Royal ein. Schon von der Eingangstüre aus sahen sie im hinteren Teil des Raumes eine in Schwarz gekleidete Dame sitzen. Sie trug ein enganliegendes schwarzes Kostüm und einen Hut, dessen Schleier ihr ganzes Gesicht verhüllte Herr und Frau Wichmann gingen auf die Dame zu und Herr Wichmann sprach sie an: "Ich nehme an, gnädige Frau, dass wir mit ihnen verabredet sind. Mein Name ist Lothar Wichmann und das ist meine Frau Helene." "Ja, natürlich, sie sind mit mir verabredet, bitte nehmen sie doch Platz. Ich bin ihnen wirklich sehr verbunden, dass sie gekommen sind, ich danke ihnen. "Da in diesem Augenblick die Bedienung kam um die Bestellung aufzunehmen, geriet das Gespräch ins Stocken. Danach griff die Dame in Schwarz, ohne ein Wort zu sagen, an ihren Hut und schlug den Schleier zurück, so dass ihr Gesicht sichtbar wurde. Ihren Gegenüber zeigte sich ein junges, feingeschnittenes Gesicht. Das Ehepaar schätzte die Dame auf höchstens 27 oder 28 Jahre. Sie hatte einen aparten und intelligenten Gesichtsausdruck Jetzt weiß ich auch, fuhr es Frau Helene durch den Sinn, woher Marko sein feines, liebes Gesicht und seine grazile Gestalt her hat, die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Aber wie kommt diese Frau dazu, ihr Kind auszusetzen, dachte sie weiter. Als sie das Gesicht der Frau intensiver betrachtete, bemerkte sie zwei feine, aber deutliche kleine Falten, die sich von den Mundwinkeln zum Kinn hinzogen, wie sie oft Menschen haben, die selten lachen und Bitteres erlebt haben. Nein, glücklich ist sie nicht, diese Frau, dachte Frau Helene weiter, und fast wider willen empfand sie Mitleid mit ihr. "Sie werden dafür Verständnis haben, wenn ich mich ihnen nicht vollständig offenbare. Ich habe meine Briefe mit den Buchstaben M.R. unterzeichnet. Das sind die Anfangsbuchstaben meines Mädchennamens und sie passen auch zu meinem jetzigen Ehenamen. Nehmen wir einmal an, er laute Maria Rosen. Dann wissen sie, wie sie mich anreden können. Ich möchte ihnen meine und damit auch Marko's Geschichte erzählen. Nicht, weil ich hoffe, dass sie mich verstehen. Ich weiß, dass meine Handlungsweise nicht akzeptiert werden kann. Aber vielleicht erklärt es manches. Übrigens, vielleicht sollte ich mich doch in gewisser Weise legitimieren." Dabei zog Frau Rosen aus ihrer Handtasche einen kleinen Bilderrahmen hervor, wie man ihn für Fotos verwendet, in dem sich aber der Abriss eines Papierbogens befand. 

"Nein sie brauchen sich nicht zu legitimieren, Frau Rosen, uns ist ganz klar, wer sie sind," antwortete Herr Wichmann. "Gut, dann hören sie mir bitte zu," fuhr die junge Frau fort. "Es wird sie vielleicht interessieren, woher ich überhaupt weiß, dass Marko bei Ihnen ist. Ich habe mir damals die Autonummer ihres Wagens gemerkt und am nächsten Tag unter einem Vorwand in ihrem Betrieb angerufen und so ihren Namen erfahren. Alles andere war nicht schwer, wie sie sich denken können. Aber hören sie meine Geschichte. Ich war damals, also vor gut sieben Jahren, mit einem Mann verlobt, der für mich alles bedeutete. Wir waren so etwas wie ein Traumpaar. Er war zehn Jahre älter als ich, gut aussehend und in guter Position. Aber das war nicht das Entscheidende. Entscheidend war, dass wir uns ungewöhnlich gut verstanden und eins waren in den Ansichten über die wichtigsten Dinge des Lebens, über Ideale und allgemeine Lebensführung, auch in Bezug auf geschmackliche Dinge und über Kunst und Musik. Vielleicht kam es daher, dass ich es zunächst als nicht so wichtig ansah, dass wir in einem Lebensgebiet eine völlig unterschiedliche Meinung hatten. Ich muss zugeben, dass ich mir in dieser Zeit nicht viel Gedanken über Ehe und Familie gemacht hatte. Ich war einfach glücklich. Aber auch ohne dass ich mir darüber bewusst eine Meinung gebildet hatte, war es irgendwie für mich selbstverständlich gewesen, dass zu einer Ehe auch Kinder gehören würden.

Mein Verlobter hatte mir aber erklärt, dass er auf keinen Fall Kinder haben wolle. Er begründete das damit, dass Kinder der persönlichen Entfaltung im Wege stünden, einem fast alle Freiheiten rauben und sehr oft auch ein Hemmschuh in der Karriere seien, besonders, wenn man in solch einem Dienst stehe wie er. Ich habe noch nicht erwähnt, dass mein damaliger Verlobter im diplomatischen Dienst stand, in einer gehobenen Position und ganz in seinem Beruf aufging. Ich musste ihm versichern, dass ich alles tun würde, um eine Schwangerschaft zu verhindern und, wenn es ungewollt doch einmal dazu kommen sollte, das Kind nicht ausgetragen werden sollte. Ich habe damals halb aus Unwissenheit und halb unter Druck, ja dazu gesagt in der heimlichen Hoffnung, dass im konkreten Fall sicher alles ganz anders aussehen würde. Im übrigen schien mir das Problem noch so weit weg. Aber gerade in dieser Beziehung hatte ich mich geirrt." Frau Rosen hatte zwischen den Sätzen des öfteren eine kleine Pause eingelegt, man merkte ihr an, dass es ihr nicht leicht fiel, darüber zu sprechen. Sie war sich auch dessen bewusst, dass ihre Gegenüber dies bemerkt hatten und so fuhr sie fort: "Sie haben sicher gespürt, dass es mir nicht leicht fällt, das alles noch einmal hervorzuholen. Aber ziehen sie daraus bitte keinen falschen Schluss. Es tut mir gut, endlich einmal darüber sprechen zu können, besonders mit Menschen , die an meinem und am Schicksal meines Kindes interessiert sind. Bedenken sie bitte auch, dass ich das alles als ein Geheimnis mit mir herumtrage. Und sie werden die ersten und wahrscheinlich die letzten Menschen sein, mit denen ich überhaupt darüber spreche." Die Dame hatte während der letzten Worte das Ehepaar voll angeschaut, um, als diese ihre Zustimmung bekundeten, fortzufahren: "Sie können sich wahrscheinlich schon denken, was geschah, ich wurde schon in der Verlobungszeit schwanger. Wieder trug ich mich mit der Hoffnung, dass die konkrete Situation meinen Verlobten umstimmen werde. Aber ich hatte mich gründlich geirrt. Er bestand darauf, dass das, was wir vereinbart hatten, auch durchgeführt werde. Er gab mir das nötige Geld und eine entsprechende Adresse und ich versprach, das Kind abtreiben zu lassen, obwohl ich von Anfang an starke Gewissenskonflikte hatte. Aber dann trat ein Umstand ein, der alles veränderte. Zwei Tage nach unserem entscheidenden Gespräch bekam mein Verlobter die Nachricht, dass er als diplomatischer Vertreter nach Äthiopien versetzt werde und dass er die Stelle bereits in acht Tagen antreten müsse. Es war für meinen Verlobten eine Beförderung und praktisch mehr als eine Stufe höher auf der Karriereleiter. So war es für ihn auch selbstverständlich, dass wir zunächst alles seiner neue Aufgabe unterordneten und ich die Abtreibung erst nach seiner Abreise vornehmen ließe. Er versicherte mir, dass er dafür sorgen werde, dass ich ihm schon bald folgen könne und dass wir dann sofort heiraten würden. Als er weg war, fühlte ich mich zunächst von einem starken Druck befreit. Ich verschob den Termin zur Unterbrechung der Schwangerschaft von einem Tag zum anderen - bis es zu spät war. Natürlich hat mein Verlobter angefragt, wie es mir ergangen wäre, und ich habe in meiner Not geschrieben, dass alles problemlos verlaufen sei. Die Genehmigung, dass ich meinem Verlobten nach Äthiopien folgen konnte , ließ länger auf sich warten, als wir beide angenommen hatten. Und so habe ich das Kind ausgetragen, immer wieder in der Hoffnung, dass mein Verlobter das Kind akzeptieren würde, wenn ich ihm mitteile, dass ein gesundes Kind geboren wurde. Ich habe dann, nach der Geburt von Marko, meinem Verlobten einen ausführlichen Brief geschrieben. Aber bevor ich den Brief absenden konnte, erreichte mich eine Nachricht von ihm, die mich völlig durcheinander brachte, obschon es eigentlich eine gute Nachricht war. Ich habe den Brief so oft gelesen, dass mir heute noch der genaue Wortlaut in Erin­nerung ist. Er schrieb, abgesehen von den ganz persönlichen Dingen: 

Liebe Maria,
Es ist soweit: Die Genehmigung für deine Ausreise nach Äthiopien liegt vor! Ein Flugticket für einen Flug in vierzehn Tagen liegt dem Brief bei. Und stell' Dir vor, die Einreise wurde davon abhängig gemacht, dass wir einen Hochzeitstermin 
benennen. Ich habe deshalb die Trauung für Anfang April geplant.
Am Stadtrand habe ich ein wunderschönes Haus gemietet, es wird dir gefallen. Ich bin so glücklich, dass die Zeit des Alleinseins endlich vorüber ist. 
Bis hierher war es ja eine gute Nachricht. 
Aber dann kam noch ein Nachtrag, in diesem stand: Wie richtig es war, dass wir uns nicht für ein Kind entschieden haben, siehst Du daran, dass Du als ledige Mutter mit Kind niemals die Einreiseer­laubnis bekommen hättest. Auch hätte ich mir dies in meiner Stellung absolut nicht erlauben können, ganz abgesehen davon, dass ich meine Meinung in dieser Hinsicht nicht geändert habe. Ganz im Gegenteil. Einige recht negative Familiensituationen, die ich auch hier kennen gelernt habe, haben mich in meiner Meinung noch bestärkt. Du siehst also, es war genau richtig.
Als ich diesen Abschnitt gelesen hatte, verließ mich aller Mut. Was sollte ich tun. Ich wusste, dass ich mich zwischen meinem Kind und dem Mann entscheiden musste. Behielt ich das Kind, verlor ich den Mann, entschied ich mich für den Mann, konnte ich das Kind nicht behalten. Ich konnte tagelang keinen vernünftigen Gedanken fassen.
Ich muss Ihnen dazu noch meine äußere Situation schildern. 
Ich war damals erst 20 Jahre alt. Meine Eltern waren vor zwei Jahren beide innerhalb eines halben Jahres gestorben. Ich war deshalb zu einer alten Tante, die damals 75 Jahre alt war und inzwischen auch gestorben ist, gezogen, und studierte an der Universität Germanistik. Meine Eltern hatten mir genügend Geld hinterlassen, dass ich einige Zeit davon leben konnte.

Als ich schwanger wurde, besuchte ich noch bis zum sechsten Monat meiner Schwangerschaft die Universität und blieb dann bis zur Entbindung zu Hause und ging praktisch nicht mehr aus, so dass außer meiner Tante kaum jemand wusste, dass ich ein Kind erwartete. Da ich noch nicht lange in der Stadt wohnte, hatte ich sonst keine engere Beziehung zu anderen Personen. So kam mir der Gedanke, dass Baby abzugeben. Meine Tante starb ein halbes Jahr später, so dass es praktisch keinen Mitwisser mehr gab."

Hier stockte die junge Frau und in ihren Augen schimmerten Tränen. Frau Wichmann legte ihre Hand mit freundlichem Druck auf den Arm der jungen Frau.
"Danke sehr, sie sind sehr freundlich, aber es geht schon wieder," erklärte diese und wischte sich die Tränen aus den Augen.
"Ich habe lange überlegt, wie ich das Ganze anstellen sollte, und dann kam mir der Gedanke mit dem Taxi.
Entschuldigen sie," erklärte sie schließlich, ihre Augen hatten sich erneute mit Tränen gefüllt, "aber das ist auch schon alles, was ich zu berichten habe." 
"Ich glaube, es ist gut, dass sie sich einmal ausgesprochen haben, Frau Rosen," ergriff Frau Wichmann das Wort. "Wir danken Ihnen sehr und können ihnen versichern, dass Marko gut bei uns aufgehoben ist, wir lieben ihn wie unser eigenes Kind.

Wir möchten ihnen auch Gelegenheit geben, den Jungen noch einmal zu sehen. Aber entschuldigen sie bitte, wenn ich das in diesem Moment anspreche, es sollte im Interesse des Kindes dann auch das letzte Mal sein. Ich glaube, dass wir es sonst ihm und uns allen unnötig schwer machen." 
"Sie haben vollkommen recht. Ich stehe zu meinem Versprechen." 
"Dann möchten wir sie für Sonntagnachmittag zu einer Tasse Kaffee einladen. Dann können sie Marko ungestört sehen und sie werden einfach eine alte Bekannte sein, die uns besucht." Die Begegnung zwischen Frau Rosen und ihrem Kind soll hier nicht näher beschrieben werden. 
Es war eine Situation, in der Peinlichkeit, echte Rührung, 
Mitgefühl und Mitleid in kurzen Abständen miteinander bei den Beteiligten wechselten. Marko begriff nicht, warum die fremde Frau ihn so intensiv umarmte und ihn liebevoll streichelte. Er hatte die ganze Begebenheit schon nach einigen Stunden vergessen. 

Das Ehepaar Wichmann war sehr froh, als die Begegnung vorüber war. Nachdem sie die Mutter von Marko kennen gelernt hatten, waren sie sich sicherer als vorher, dass sie keinen Kontakt mehr mit ihnen aufnehmen würde. Bald hatte sich ihr Leben wieder normalisiert. Marko erfüllte praktisch alle Erwartungen, die seine Eltern in ihn gesetzt hatten, wobei sie durchaus nüchtern und ohne überzogene Hoffnungen waren. Er durchlief die Schule ohne nennenswerte Schwierigkeiten, machte mit neunzehn Jahren sein Abitur und hatte sich zu einem netten, forschen jungen Mann entwickelt, der, wie Frau Wichmann im Geheimen oft feststellte, in vielem nach seiner Mutter kam. Irgendwie haftete ihn etwas Vornehmes und Sympathisches an. 

Nach dem Abitur entschloss er sich, Jura zu studieren, um einmal Richter zu werden. Auch auf der Universität hatte er keine Schwierigkeiten, war beliebt und hatte gute Freunde. Er war sportlich begabt und spielte in der Uni in der Hallenhandballmannschaft mit und wurde als guter Spieler gelobt. Da er außerdem musikalisch war, hatte er im Alter von zehn Jahren begonnen, Cello zu spielen und hatte es zu beachtlichen Leistungen gebracht, die ihn befähigten, im Orchester der Universität mitzuspielen. 
So war sein zwanzigster Geburtstag ein wahrer Freudentag für alle Beteiligten. Etwa vier Wochen nach seinem Geburtstag kam Marko eines Tages ungewöhnlich früh von der Universität zurück. Der Mutter fiel sofort auf, dass seine sonst frische und rosige Gesichtsfarbe ins Blasse und Graue gewechselt war. 
"Mein Junge, was ist mit dir?" fragte Frau Wichmann besorgt. 
"Ich weiß nicht recht," erklärte Marko etwas verlegen "mir ist heute mitten beim Handballspielen schwindelig geworden, so dass ich mich setzen musste, und nun ist mir nicht gut. Ich glaube, ich lege mich eine Stunde hin, dann bin ich wieder fit." 
"Es ist einfach zu viel," erklärte seine Mutter," das Studium, das Cellospiel und der Sport, ruhe dich aus, dann werden wir weiter sehen." Da es Marko am nächsten Tag wieder gut ging, maß man dem Vorfall keine besondere Bedeutung bei. Aber zwei Monate später wiederholte sich das Unwohlsein innerhalb weniger Tage mehrmals, so dass ernste Besorgnis entstand und die Eltern darauf bestanden, dass Marko den Arzt aufsuchte. Dieser führte eine gründliche Untersuchung durch und erklärte dem jungen Mann, dass die Ergebnisse einige Tage auf sich warten lassen würden und dass er in zwei oder drei Tagen wiederkommen solle, um das Ergebnis zu erfahren. Näherer Angaben könne er zunächst nicht machen. Als Marko bei dem Arzt wieder vorsprach, merkte er, dass dieser ein etwas bedenkliches Gesicht machte. 
"Herr Wichmann, " erklärte er, "wir müssen noch eine gründlichere Untersuchung durchführen. Die richtige Diagnose kann wohl nur anhand des Blutbildes und einer Knochenmarkpunktion gestellt werden. Es tut mir leid, Herr Wichmann, aber zu ihrem eigenen Nutzen ist das unbedingt erforderlich."
Marko war den Ausführungen des Arztes genau gefolgt und war sich im klaren, dass dieser eine ernstliche Erkrankung nicht ausschloss.
"Herr Doktor," meinte er gefasst, "sie haben einen bestimmten Verdacht. Sagen sie mir bitte die Wahrheit. Einmal muss ich es doch erfahren. 
Ich glaube, ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, womit ich zu rechnen habe."
"Ja, Herr Wichmann," antwortete der Arzt zögernd, "wissen sie, es ist nur ein Anfangsverdacht. Ich weiß nicht, ob sich dieser bestätigen wird und ich sie nicht unter Umständen unnötig belaste. Aber wenn sie meinen, dass es für sie besser sei, will ich ihnen sagen, was möglich ist, es kann sich aber auch herausstellen, dass es ganz anders ist. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sich bei ihnen eine Leukämie eingestellt hat. Aber ich sage es ausdrücklich mit allem Vorbehalt. Wir werden die erforderliche Untersuchungen durchführen und in einigen Tagen haben wir Gewissheit."
"Ich danke ihnen, Herr Doktor, ich werde pünktlich zu der Untersuchung erschienen."
Etwas benommen verließ Marko die Sprechstunde. Er war gebildet genug um zu wissen, dass Leukämie nichts anderes als Blutkrebs bedeutete, eine Krankheit mit sehr wenig Aussicht auf Heilung. Es ging ihm so, wie wohl vielen Menschen in einer ähnlichen Situation. Alles kam ihm irgendwie unwirklich vor. Galt das wirklich alles ihm? Da sich noch keine starken Krankheitssymptome zeigten, war etwas in ihm, das ihm sagte, dass das alles nicht sein könne. Und andererseits wusste er zu genau, dass die Vermutung des Arztes aller Wahrscheinlichkeit sich bestätigen würde. 

Lange überlegte er, wie er sich seinen Eltern gegenüber verhalten sollte. Sollte er ihnen von der Vermutung des Arztes nichts sagen, um sie nicht unnötig zu beunruhigen? Aber wären sie dann im Falle der Bestätigung nicht um so mehr geschockt. Außerdem hatte er bisher alles Entscheidende mit seinen Eltern, 
besonders mit seiner Mutter, besprochen und entschieden. Und immer hatte er sie als tragfähig und verständnisvoll erlebt.
So entschloss er sich, ihnen nichts vorzuenthalten. Als er seiner Mutter seine Erklärung gegeben hatte, nahm diese mit beiden Händen seine Rechte, zog ihn an sich und sagte: "Marko, der Mensch lebt von der Hoffnung, und ich hoffe wie du, dass sich die Vermutung des Arztes nicht bestätigt. Aber was auch kommt, du wirst in deinen Eltern immer Partner finden, die zu dir halten, die alles daransetzen dir zu helfen und ich bin überzeugt, dass Gott dich dir uns nicht gegeben hat, damit es ein tragisches Ende nehmen sollte. Ich werde täglich für dich beten, Marko, wir halten zusammen!" Marko war sehr gerührt über die Worte seiner Mutter, die Augen wurden ihm feucht, er drückte sie an sich und sagte nur: "Wie gut, dass ich euch habe!"
Einige Tage später bestätigte sich der Verdacht des Arztes. Die genaue Diagnose lautete: akute myeloische Leukämie, kurz ALM genannt. Marko hatte die Diagnose gefasst aufgenommen, er war froh, seinen Eltern sofort die Wahrheit gesagt zu haben, dadurch hatten sie schon oft über die ganze Problematik gesprochen, was ihn in seinen Ängsten und Befürchtungen sehr geholfen hatte. Die Mutter hatte den Arzt noch einmal um ein weiteres Gespräch gebeten, sie wollte genau wissen, was auf ihren Sohn und sie alle zukommen würde. 
Der Arzt hatte ihr folgendes erklärt.
"So schlimm die Diagnose auch ist, hätte sie schlimmer sein können. Die AML ist die leichter zu heilende Art von zwei möglichen Leukämieerkrankungen, was allerdings nicht bedeutet, dass hier nicht eine sehr ernste, lebensbedrohliche Krankheit vorliegt. Aber wir werden alles tun, um dem jungen Mann zu helfen. Die Behandlung wird in zwei großen Abschnitten durchgeführt:
Erstens: Mehrwöchige, sehr intensive stationäre Behandlung, kombinierte Chemotherapie um in möglichst kurzer Zeit mindestens 95% aller Leukämiezellen zu zerstören. Wenn das gelingt, spricht man von einer Remission, einer Besserung. Zusätzlich erhalten die Patienten Kopfbestrahlungen, um Herde im Zentralnervensystem auszuschalten, sowie eventuell Antibiotika und bestimmte Arten von Bluttransfusionen. Wenn das anschlägt erfolgt Zweitens, eine meist häusliche Erhaltungsbehandlung mit verschiedenen Chemotherapeutika, unter Umständen über 2 - 3 Jahre. Aus der Remission soll eine Heilung werden.
Ich hoffe, Frau Wichmann," schloss der Arzt seine Ausführungen , " dass ich sie nicht unnötig beunruhigt habe. Aber das sind nun einmal die Tatsachen.!
Wichtig ist vor allem, dass sie ihrem Sohn psychologisch zur Seite stehen, dass er selbst an seine Heilung glaubt und mitarbeitet ist für die Aussicht auf Heilung mindestens genau so wichtig, wie die medizinischen Behandlung."
"Nein, Herr Doktor, sie haben mich nicht beunruhigt. Ich finde es, zusammen mit meinem Mann, besser, wenn man den Feind kennt, nur dann kann man ihm richtig begegnen. Wir werden als Eltern mit unserem Sohn alles tun, um den Heilungsvor­gang zu unterstützen."
Die folgenden Monate waren für die Familie Wichmann sehr schwer. Die Krankheit zeigte mehr und mehr ihre schwerwiegenden Auswirkungen. Marko wurde in eine Spezialklinik verlegt und es dauerte Monate, bis eine Remission eintrat. Aber schon bald gab es einen Rückschlag. Die Eltern waren oft der Verzweiflung nahe, fanden aber in ihrer inneren Einheit und in der Liebe zu ihrem Sohn immer wieder die Kraft, ihm helfend und ermutigend zur Seite zu stehen. 

Sicher hatte auch jeder seine schwachen Stunden, viele Tränen wurden geweint, manches vertrauensvolle und verzweifelte Gebet zum Himmel geschickt. Andererseits führte aber gerade die Krankheit die Beteiligten so eng zusammen, wie es sonst sicher nie der Fall gewesen wäre.
Frau Helene besuchte täglich ihren Sohn. Ihr Mann so oft wie nur möglich. Marko trug sein Leiden sehr vorbildlich. Zwischendurch versuchte er immer wieder, sich auch in Bezug auf das Studium auf dem Laufenden zu halten. 
Eine schwere Krise machte er durch, als auch nach der zweiten Remission ein Rückschlag erfolgte. Auch die Ärzte machten noch wenig Hoffnung.
Schließlich bat der behandelnde Arzt die Eltern zu einem Gespräch. Er eröffnete ihnen, dass die Aussicht auf Heilung mit den herkömmlichen Mitteln kaum noch zu erhoffen sei.
"Allerdings," fuhr er dann fort, "ist inzwischen eine neue Behandlungsmethode erprobt worden, die auch in solchen Fällen wie bei ihrem Sohn, noch gute Heilungschancen verspricht, wenngleich diese Art der Behandlung sich auch noch mehr oder weniger in der Erprobungsphase befindet. Es handelt sich dabei um die Knochenmarktransplantation. Wenn ihr Sohn und sie damit einverstanden sind, sollten wir dieses letzte Mittel probieren. 
Allerdings benötigen wir dafür den richtigen Spender. Es muss eine Person sein, die mit ihrem Sohn identische weiße Blutkörperchen hat. Das sind in der Regel Geschwister oder die Eltern. Wie ich aus den Gesprächen mit ihnen weiß, hat ihr Sohn Marko keine Geschwister.

Aber es ist anzunehmen, dass sie als Eltern als Spender geeignet sein werden. Ich nehme an, Herr Wichmann," wandte er sich an den Vater, " dass sie gegebenenfalls zur Spende bereit wären?"
"Aber natürlich, selbstverständlich," antwortete dieser spontan. Dann stockte er plötzlich, schaute seine Frau fragend an und fuhr fort: "Das heißt, ich meine,..."
"Haben sie medizinische Bedenken, Herr Wichmann?" fiel ihm der Arzt ins Wort, "ich kann ihnen versichern, für sie ist die Sache praktisch risikolos."
"Nein, Herr Doktor, das ist es nicht. Aber wir müssen ihnen jetzt etwas offenbaren, was außer uns kaum jemand weiß, vor allem auch Marko nicht: Wir sind nicht die leiblichen Eltern von Marko, er ist ein Adoptivkind."
"So, das ist allerdings eine überraschende Neuigkeit und erschwert unseren Plan. Sie werden, gemäß den Adoptionsgesetzen, zwar nichts über die Eltern von Marko wissen, aber ich nehme an, dass das Jugendamt in diesem besonderen Fall die Elternschaft offenbaren wird. Dann könnten wir an die leiblichen Eltern herantreten."
Das Ehepaar erklärte dem Arzt nun ausführlicher die Umstände der Adoption und dass von den Eltern praktisch nichts bekannt war. Enttäuscht , niedergeschlagen und zum ersten Male hoffnungslos, traten sie den Heimweg an. Zu Hause angekommen, erklärte Lothar Wichmann, er müsse eine Zeit allein sein um einen klaren Gedanken fassen zu können.
Seine Frau hörte, wie er in seinem Büro über eine Stunde lang unruhig hin und her lief, während sie selbst verzweifelt über eine Lösung nachdachte.
In ihre Gedanken hinein betrat ihr Mann das Zimmer.
"Helene," erklärte er aufgeregt, mir ist jetzt ganz klar, was wir zu machen haben. Wir müssen Frau Rosen, oder wie immer sie heißen mag, Marko's Mutter, ausfindig machen. Sie wird eine geeignete Spenderin sein."
"Daran habe ich zwar auch schon gedacht, aber wir wissen doch praktisch nichts über diese Frau." "Ja, siehst du, das ist mir jetzt in dieser Stunde klar geworden, wir wissen mehr, als uns bisher bewusst war. lass uns doch einmal zusammentragen. Wir wissen, dass Marko's Mutter verheiratet ist und ihr Nachname mit R beginnt. Wir wissen, dass ihr Mann vor 21 Jahren in den diplomatischen Dienst nach Äthiopien gerufen wurde. Wir wissen also auch seinen Beruf und dass er folgerichtig ein Bundesbeamter sein wird. Nun werden in diesem bestimmten Jahr nicht mehrere Diplomaten nach Äthiopien abgeordnet worden sein. Ich denke, dass mit diesem Hintergrundwissen eine gute Detektei herauskriegen muss, um wen es sich hier handelt. Alles Weitere werden wir dann schaffen. Ich werde gleich morgen ein entsprechendes Büro aufsuchen."
"Du hast Recht, Lothar, es leuchtet mir ein, das könnte möglich sein. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass die Frau bisher ihr Geheimnis gehütet hat und unsere Nachforschungen unter Umständen bei ihr viel zerstören können, was sie bisher aufrecht erhalten hat. Aber da es schließlich um Leben und Tod geht, um Leben und Tod ihres und unseres Sohnes, müssen wir es versuchen."

Lothar Wichmann unternahm schon am nächsten Tag alle erforderlichen Schritte. Schon nach 5 Tagen teilte ihm das Detektivbüro mit, dass es sich bei den gesuchten Personen wohl nur um Herrn und Frau Albert und Mechthild Rauen handeln könne. Herr Rauen arbeite bei der Botschaft in Bonn, privat sei eine Adresse in Bad Godesberg ausfindig gemacht worden. Adressen und Telefonnummern wurden ihnen ausgehändigt.
Das Ehepaar war wieder voller Hoffnung. Man hatte genau überlegt, wie man weiter vorgehen wolle. Herr Wichmann wollte am nächsten Tag, in den Vormittagsstunden, unter der Privatadresse anrufen, weil man davon ausging, dass um diese Zeit Herr Rauen im Büro sei und man die Chance habe, Frau Rauen zunächst allein zu sprechen um ihr die Modalitäten der ganzen Sache zu überlassen.

Voller Spannung wählte Lothar Wichmann am nächsten Morgen die Telefonnummer. "Ja bitte," meldete sich am anderen Ende der Leitung eine Frauenstimme.
"Mein Name ist Lothar Wichmann. spreche ich mit Frau Rauen?"
"Frau Rauen?" ließ sich die Frauenstimme vernehmen, " Frau Rauen ist leider vor gut einem Jahr verstorben. Hier spricht die Haushälterin von Herrn Rauen. Ihn selbst erreichen sie in seinem Büro."

Das war allerdings eine wenig ermutigende Nachricht. Es bleibt keine andere Wahl, wir müssen Kontakt mit Herrn Rauen aufnehmen, auch wenn wir dadurch das Bild seiner so früh verstorbenen Frau trüben müssen, war sich das Ehepaar einig. 
Lothar Wichmann gelang es nach einigen Schwierigkeiten, Herrn Rauen telefonisch zu erreichen. Als er ihm andeutete, dass es sich um eine wichtige und ihm unbekannte Tatsache in Bezug auf seine verstorbene Frau handele, war er schließlich zu einem Gespräch bereit und lud ihn zum nächsten Samstag in seine Wohnung ein.
Dieser betrat mit sehr gemischten Gefühlen die Villa in Bad Godesberg. 
Wie so oft im menschlichen Leben empfand er die Schmerzlichkeit darüber, dass , um dem einen zu helfen, bei einem anderen Illusionen zerstört werden müssen, was meist für alle Beteiligten bitter ist. Bald stand er Herrn Albert Rauen gegenüber, einem gutaussehenden , vornehm wirkenden Herrn. Nach den üblichen Formalitäten bat Herr Rauen: 
"Herr Wichmann, ich wäre ihnen dankbar, wenn sie sogleich zum Wesentlichen kommen. 
Sie haben angedeutet, dass es sich um eine Angelegenheit in Bezug auf meine verstorbene Frau handelt. Sie werden verstehen, dass ich hier recht bald Klarheit haben möchte."
"Natürlich, das verstehe ich gut," antwortete sein Gegenüber, "aber ich muss auch gestehen, dass es mir nicht leicht fällt, meinen Bericht zu geben. Ich möchte ihnen zuvor erklären, dass es sich um eine Sache um Leben und Tod handelt, um Leben und Tod meines Sohnes Marko, oder, um gleich zum Wesentlichen zu kommen: es geht um Leben und Tod", hier stockte der Berichterstatter einen Augenblick, "ihres Sohnes, Herr Rauen."
Dieser schaute ihn verwundert an und meinte: "Herr Wichmann, ich nehme an, dass es sich hier um eine Verwechslung handelt, meine Frau und ich haben nie Kinder gehabt, wie kommen sie zu dieser Aussage?"
"Nun, das ist eben das, was es mir so schwer macht, ihnen die Sache zu erklären. Ich will versuchen, das Wichtigste kurz zu schildern, über Einzelheiten können wir uns später unterhalten. Ihnen ist ja bekannt, dass ihre Frau, damals noch ihre Verlobte, schwanger geworden war, noch bevor sie nach Äthiopien berufen wurden. Sie hatte ihnen zugesagt, das Kind abtreiben zu lassen. 

Sie ist darüber aber in so große Gewissenskonflikte gekommen, dass sie diesem ihren Wunsch nicht nachgekommen ist und das Kind ausgetragen hat. Sie hat sich nicht getraut, ihnen die Wahrheit zu sagen, da sie offensichtlich absolut keine Kinder wollten. Als ihre Frau ihnen dann nach Äthiopien folgen sollte, hat sie in ihrer Verzweiflung das Kind in meiner Taxe ausgesetzt. Wir haben dann Marko adoptiert und großgezogen. Und nun ist er an Leukämie erkrankt, und die einzige Hilfe ist eine Knochenmarkübertragung. Als Spender kommen hauptsächlich leibliche Angehörige in Frage, und das sind nun alleine sie. Verstehen sie, dass ich sie aufsuchen und informieren musste? Es tut mir wirklich leid für sie."
Hier stockte er und beide Männer gönnten sich eine Gedankenpause. Schließlich erwiderte Albert Rauen: "Herr Wichmann, sie werden verstehen, dass mich das alles überrascht. Aber ich verstehe auch sie, wenn die Dinge wirklich so liegen, wie sie sie geschildert haben. Ich denke sie werden auch verstehen, dass ich die Frage stelle: Haben sie für all dies irgendeinen schlüssigen Beweis?"
"Ich verstehe sie sehr gut, Herr Rauen. Wenn sie Marko sehen würden, wären sie überrascht über die Ähnlichkeit mit ihrer Frau. Aber es gibt noch einen anderen Beweis. Irgendwie hat ihre Frau wohl geahnt, dass solch ein Beweis einmal nötig werden könnte."
Bei diesem Worten zog er einen Briefbogen zart-rosaroter Schrift hervor und übergab ihn Herrn Rauen, der in aufmerksam las. 
"Ich nehme an, Herr Rauen, dass sie die Handschrift ihrer Frau erkennen. 
Vielleicht hilft uns aber auch noch die kleine Besonderheit, die ihre Frau sich ausgedacht hat. Sie haben sicherlich den Nachtrag in diesem Brief gelesen, wo es um den Abriss von diesem rosaroten Brief geht. Vielleicht ist er in der Hinterlassenschaft ihrer Frau aufgefunden worden?"
Als Herr Rauen den Brief gelesen hatte, er versank in ein kurzes Nachdenken und erklärte dann: 
"Herr Wichmann, mir ist jetzt einiges klar geworden. Warten sie einen Augenblick." Mit diesen Worten ging er an eine im Raum stehende Vitrine, zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen kleinen Bilderrahmen.
"Sehen sie," begann er, "in diesem Rahmen befindet sich ein Abriss von einem Bogen Briefpapier mit zart-rosaroter Schrift. Ich brauche den Brief, den sie mir gegeben haben, nicht daranzuhalten um zu sehen, dass beide zusammen den ursprünglichen Bogen ergeben. Als wir kurz verheiratet warten, entdeckte ich eines Tages diesen kleinen Rahmen mit dem eigenartigen Inhalt. Ich fragte mein Frau damals, was es damit auf sich habe. Sie hat mir erklärt, dass dieses kleine Stück rosa Papier sie an einen lieben Menschen erinnere. Es sei ein Geheimnis, in das sie niemanden eindringen lassen möchte. Es hätte nichts mit unserem Verhältnis und unserer Liebe zueinander zu tun und ich möchte ihr diese Geheimnis lassen. Ich habe ihr diesen Wunsch erfüllt und nie mehr danach gefragt, obwohl der Rahmen ständig auf ihrem Frisiertisch stand. Jetzt weiß ich, warum.

Sie werden verstehen, dass ich das alles erst einmal verarbeiten muss, ich fühle mich selbst sehr schuldig. Aber natürlich helfe ich ihrem... meinem Sohn, wenn ich als Spender in Frage komme."
Das Ehepaar war sehr froh, als sich herausstellte, dass Herr Rauen als Spender geeignet war. 
Man kam auch überein, dass Marko nicht erfahren sollte, wer der Spender war. Sollte er fragen, womit zu rechnen war, wollte man ihm sagen, dass sein Vater der Spender gewesen sei, was ja so oder so der Wahrheit entsprach. Nach einigen Wochen zeigte es sich, dass die Übertragung angeschlagen hatte. Die Gesundung von Marko war lediglich eine Frage der Zeit. 
"Ich habe es gewusst," pflegte Frau Wichmann zu sagen, "so viele und intensive Gebete können nicht unerhört bleiben."
Tatsache war jedenfalls, dass die psychologische Unterstützung der Eltern mit ausschlaggebend gewesen war, dass Marko alle Krisen überstanden hatte.
Etwa drei Monate nach der Übertragung, als es Marko schon recht gut ging, besuchte Herr Wichmann seinen Sohn. Dieser war voller Hoffnung und neuer Pläne.
"Weißt du, Vater, erklärte er, ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll. Ohne eure Liebe und Unterstützung hätte ich das alles nicht durchgehalten. Na, und schließlich hast du mir ja, Vater, mit der Knochenmarkübertragung, das Leben gerettet." 
Lothar Wichmann fasste mit beiden Händen die Rechte von Marko, schaute ihm fest in die Augen und erklärte ruhig aber bestimmt: "Marko, ich war nicht der Spender, ein anderer hat dir das Leben gerettet."
Marko schaute seinen Vater verständnislos an: "Und wer war das?" 
"Das war, Marko, dein... dein leiblicher Vater."
"Mein leiblicher Vater?" wiederholte Marko langsam und ungläubig fragend.. Dann, seine Augen wurde groß und erschreckt, fragte er: "Soll das heißen, dass du, dass ihr nicht meine leiblichen Eltern seid?"
"Ja, Marko, so ist es, wir haben dich als Säugling adoptiert und eigentlich waren wir alle der Meinung, dass eine Aufklärung nicht nötig werden würde. Aber nachdem du so hoffnungslos krank wurdest, und dein leiblicher Vater die einzige Rettung für dich war, haben wir uns zu dem Schritt entschlossen, die Identität deiner Eltern aufzudecken. Und nun meine ich, dass es wir nicht nur dir, sondern auch deinem Vater, und deiner Mutter, die leider nicht mehr lebt, schuldig sind, die Wahrheit aufzudecken."

Das Gespräch zwischen den beiden Männern dauerte noch einige Stunden, bis alle Einzelheiten erklärt waren. Marko hatte aufmerksam zugehört, immer wieder Fragen gestellt und am Schluss des Gespräches nur wortlos die Hand seines Vaters gedrückt, ein Händedruck, der Herrn Wichmann mehr sagte, als alle Worte. Er wusste, dass sie ihren Sohn nicht verloren hatten. Er hatte mit Marko ausgemacht, dass Herr Rauen ihn am nächsten Tage aufsuchen solle.
Die Begegnung war voller innerer Dramatik. Aber fand bald den richtigen Ton zu einem leiblichen Vater, der sich große Vorwürfe machte, damals sei Frau so unter Druck gesetzt zu haben. Und Marco machte den Vorschlag, dass die Wiechers in allen Dingen seine Eltern bleiben sollten. Aber für mich, erklärte bist und bleibst du ein väterlicher Freund. Als sich dann beide in den Armen lagen und Tränen flossen, waren es auf beiden Seiten Freudentränen.

Als Herr und Frau Wichmann Marko am darauf folgenden Tage besuchten, klopfte ihnen das Herz bedenklich laut. Marko hatte die Erlaubnis bekommen, aufzustehen und überraschte das Paar damit. Er ging auf die beiden zu, umarmte mit seiner Rechten und Linken je einen Elternteil und sagte, man merkte ihm dabei seine innere Bewegtheit an: 
"Wir haben miteinander eine schwere Zeit durchgemacht. der alte Schiller hat schon recht gehabt wenn er sagt 'Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil'. Aber auch der Prediger hat recht: 'Alles hat seine Zeit, weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit'. Ich weiß, dass die Zeit des Weines für uns vorüber ist. Ich danke euch. Womit habe ich das verdient, so gute Eltern zu haben. 
Die beste Mutter der Welt, den treusorgensten Vater den es gibt und dass ich nun auch noch einen väterlicher Freund gefunden habe, der mir nicht nur das Leben geschenkt, sondern auch gerettet hart, ist fast zu viel des Glücks.
Darum wollen wir den weiteren Rat des Predigers beherzigen: 'Da merkte ich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinen Mühen, dass ist eine Gabe Gottes."

"Amen," sagte Lothar Wichmann fröhlich bewegt, um seine innerer Ergriffenheit nicht zu sehr zeigen zu müssen und das gegenseitige Umarmen wollte kein Ende nehmen. 

Zum Inhaltsverzeichnis