Alma Andersen
oder 
Die Rheinfahrt


Alma Andersen saß am liebsten an ihrem Fenster im Wohnzimmer und schaute auf den Rhein. Majestätisch floss der breite Strom dahin. Gern sah sie die weißen Passagierschiffe, die verschiedenen Kähne und beobachtete das Treiben der verschiedenen Boote auf dem Wasser.

Besonders angetan hatten es ihr aber die Schleppkähne, die langsam und behäbig ihre schwere Last stromauf- und abwärts brachten. Sie stellte es sich sehr romantisch vor, so in aller Ruhe durch die Landschaft, durch die Städte und Dörfer zu fahren. Zu gerne hätte sie das selbst einmal erlebt, aber das musste jetzt wohl ein unerfüllter Traum bleiben. Wie oft hatte sie als Kind und später noch am Ufer des Rheins gestanden und den Schiffern auf den Schleppschiffen zugewunken.

Wenn sie nach rechts aus ihrem Fenster schaute, sah sie auf die gewaltige, stählerne Brücke, die den breiten Fluss überquert und auf der stets reger Autoverkehr herrschte. Stundenlang konnte sie so dasitzen und dem Treiben zuschauen Dann kamen auch alte Geschehnisse wieder in ihre Erinnerung. Wie oft war sie mit ihrem Verlobten am Rheinufer spazieren gegangen und wie viele glückliche Stunden dabei erlebt. Als dieser im Krieg fiel, drohte ihr alle Lust am Leben zu schwinden. Lange hatte sie gebraucht um sich damit abzufinden, zu einer neuen Beziehung war es dann nicht mehr gekommen. 

Das kleine Haus in der Kölner Altstadt hatten ihr die Eltern hinterlassen, es stand dicht eingezwängt zwischen den anderen­ alten, romantisch wirkenden Häusern. In der unteren Etage befand sich eine kleine Pizzeria, so dass Alma Andersen neben ihrer Rente noch eine gute Mieteinnahme hatte und sorglos leben und das Haus Instandhalten konnte.

Vor drei Jahren war sie in Rente gegangen. Sie hatte als Hutmacherin gearbeitet und ihren Beruf sehr geliebt. Das oberste Fach ihres Kleiderschrankes war jetzt noch prall gefüllt mit ihren Hüten. Nie ging sie ohne Hut aus dem Haus und wusste sich gut zu kleiden sodass die kleine, schlanke und immer noch gutaussehende alte Dame manchen interessierten Blick auf sich zog. In einer Nacht im Juli wurde sie plötzlich durch einen lauten, dumpfen Knall geweckt, dem ein lautes Scharren folgte, so wie wenn zwei harte Materialien sich aneinander reiben. Wahrscheinlich wieder ein Unfall auf der Brücke, dachte sie bei sich, weil das des öfteren vorkam. Sie stand auf um sich zu informieren. Es war sechs Uhr in der Früh und auf der Brücke war nichts besonderes zu sehen. Vom Rhein her aber schallten Stimmen zu ihr hinüber, und dann sah die alte Dame, was geschehen war. Ein Schleppschiff hatte den rechten Brückenpfeiler gerammt und lag nun dort fest. Daher die Geräusche. Alma legte sich wieder zu Bett. Als sie gegen acht Uhr endgültig aufstand, lag das Schiff immer noch am Rheinufer fest.

Das ist eine gute Gelegenheit, dachte sie bei sich, ein Schleppschiff in aller Ruhe einmal aus der Nähe zu betrachten. Sie kleidete sich an, vergaß auch nicht, einen Hut aufzusetzen, und trippelte mit kleinen Schritten zum Rheinufer. Ein paar Schaulustige hatten sich inzwischen eingefunden. Das Schiff war am Ufer festgemacht und ein Steg führte vom Schiff zum Ufer. Gerade als Alma eintraf, verließ ein Mann mittleren Alters das Schiff und ging auf einen gerade angekommenen Lieferwagen zu, dem ein Mann in Arbeitskleidung, ein Monteur, wie sie vermutete, entstieg.

"Haben sie die Ersatzteile bekommen?" fragte der Mann vom Schiff in gutem Deutsch aber mit deutlichen holländischen Akzent den Monteur. "Ja," erwiderte dieser kurz, "und wenn alles gut geht, habe ich in etwa zwei Stunden die Reparatur erledigt und sie können weiterfahren." Interessiert schaute sich Alma das Schiff an. Zu gerne wäre sie einmal an Bord gegangen und hätte sich alles genau angesehen.
Wieder zu Hause angekommen schaute sie immer wieder einmal zu dem Schiff hinüber von dem laute Schläge auf Eisen von der Reparatur zeugten. Plötzlich durchzuckte Alma Andersen ein Gedanke, ein wahnwitziger Gedanke, wie sie fand: Könnte ihr heimlicher Wunsch, einmal auf einem Schleppschiff zu fahren nicht doch noch in Erfüllung gehen? Wenn ich mich nun einfach heimlich an Bord schleiche und mich erst wieder zeige, wenn das Schiff in Fahrt ist? dachte sie bei sich. Verrücktes altes Weib, schalt sie sich selber. Einige Minuten später holte sie ihren kleinen Reisekoffer hervor und begann, das Nötigste einzupacken, was man für eine Reise für einige Tage brauchte. Sie war fest entschlossen, als blinder Passagier an Bord zu gehen. 

Am Schiff war es jetzt menschenleer, nur von Innen hörte man das laute Klopfen der Reparaturarbeit. Mit kleinen, leichten Schritten, so, als gehöre sie selbstverständlich zu diesem Schiff, ging sie über den Steg auf das Schiff. Sofort sah sie die kleine Treppe, die nach unten ins Innere des Schiffes führte. Hastig stieg sie mit ihrem kleinen Köfferchen hinab. Unten entdeckte sie, dass sich unter der Treppe ein kleiner Bretterverschlag befand, zu dem eine schmale Türe führte. Hier schlüpfte sie hinein, setzte sich auf ihr Köfferchen und wartete ab. Fast eine Stunde saß sie in dem dunklen Verschlag, dann hörte sie, dass die Motoren wieder ansprangen und das Schiff langsam in Fahrt kam.

Jetzt verließ sie ihr Versteck und stieg die Treppe hinauf und stand plötzlich vor dem Eigentümer des Schiffes. Dieser war wohl genau so erstaunt und verblüfft wie sie selber, so dass es einen Augenblick dauerte bis er sich gefangen hatte und rief: "Wer sind sie? Was machen sie hier, was bedeutet das?" Alma musste erst einmal schlucken bevor sie kleinlaut antwortete: "Ich bin Alma Andersen. Ich bin als blinder Passagier an Bord gegangen. Bitte verzeihen sie mir, aber es ist schon immer mein inniger Wunsch gewesen, einmal mit einem Schleppschiff zu fahren und so haben ich heute die Gelegenheit ergriffen."
"Eine so nette alte Dame und so töricht und voller Abenteuerlust?" erwiderte der Mann kopfschüttelnd. "Nun, wie es auch sei, jetzt sind sie hier und ich kann sie nicht über Bord werfen," sagte er in einem Anflug von Humor. "Wenn sie schon da sind, dann kommen sie mit zu meiner Frau, vielleicht können sie ihr ein bisschen helfen."

Damit ging er zu dem bewohnten Teil des Schiffes, stieß eine Türe auf und führte Alma hinein. In der Wohnküche stand eine etwa 35jährige Frau bei der Hausarbeit. "Hallo, Hilda," ließ sich der Mann vernehmen, "ich habe Besuch mitgebracht." Mit kurzen Worten schilderte er, wie Alma Andersen an Bord gekommen war. "Ich heiße Hilda Nedden," stellte sich die Frau vor, und das ist meine Mann Jan. Na, dann seien sie trotz allen herzlich willkommen an Bord. Sie können mir bei der Arbeit ein bisschen helfen, ich habe es nötig, wie sie sehen." Jetzt bemerkte Alma, dass die junge Frau hoch in Umständen war. "Natürlich ich helfe ihnen gerne," erwiderte sie.

Die beiden Frauen verstanden sich bald recht gut und Alma erzählte einiges aus ihren Leben und ihrer Liebe zu den Schiffen und Frau Nedden einige besondere Begebenheiten von den Schifffahrten. Schließlich begann sie, das Abendessen herzurichten. Alma hatte inzwischen alle Räume besichtigt und war erstaunt, wie praktisch alles auf kleinsten Raum eingerichtet war.
Sie war innerlich sehr erfreut, das ihr Herzenswunsch, einmal auf einem Schleppschiff zu fahren, doch noch in Erfüllung gegangen war. Frau Hilda war gerade dabei, den Abfalleimer zu leeren, wozu sie die Wohnküche verlassen musste. Dabei stolperte sie so unglücklich über die Türschwelle, dass sie vornüber auf die Planken des Schiffes stürzte. Alma stieß einen kleinen, spitzen Schrei des Entsetzens aus und lief zu der am Boden liegenden Frau. "Ich helfe ihnen auf, hoffentlich haben sie sich nicht verletzt." 

Auch Herr Nedden war herbeigeeilt und half seiner Frau. Mühsam erhob sich die schwangere Frau. Gemeinsam brachten sie die Frau in das Zimmer zurück. "Hoffentlich ist dem Kind nichts passiert," stöhnte sie. Frau Nedden legte sich auf die Couch, die sich im Raum befand. Soweit ging es ihr gut, nur der rechte Fuß schmerzte etwas. Alma kümmerte sich um die junge Frau und führte die weiteren Arbeiten aus. "Wie gut ist es doch, wenn man einen blinden Passagier an Bord hat," versuchte Frau Nedden zu scherzen, die plötzlich über Leibschmerzen klagte. "Ich glaube, rief sie besorgt, die Wehen setzen ein. Wir haben erst in acht Tagen mit der Geburt gerechnet, aber der Sturz..." sagte sie besorgt. "Und wir können nirgends anlegen, wir befinden uns in einer Gegend zwischen den Städten, was machen wir bloß?" "Machen sie sich nicht zu viel Sorgen, Frau Hilda," erwiderte Alma. "Meine Mutter war Hebamme und ich habe bei mancher Entbindung zugeschaut und geholfen, ich werde auch Ihnen helfen." "Sie hat der Himmel geschickt," sagte Frau Nedden und begab sich ins Bett. Tatsächlich wurden die Wehen immer heftiger. Alma benachrichtige Herrn Nedden und ergriff das Regiment.
"Heißes Wasser und weiße Tücher herbeischaffen," beauftragte sie den Ehemann. 

Die Wehen wurden bald stärker und folgten immer schneller hintereinander, dann setzte der Geburtsvorgang auch schon ein. Alma gab präzise Anweisungen und nach einer Stunde hielt sie einen kräftigen und gesunden Jungen im Arm. Sachgemäß hatte sie die Nabelschnur durchtrennt und der kleine Erdenbürger fand in einem großen Korb, der mit vielen Tüchern ausstaffiert war, seinen ersten Platz.
Frau Hilda war erschöpft, aber glücklich und dankte Alma überschwänglich. "Was hätten wir bloß ohne sie gemacht?" fragte sie besorgt. "Wozu eine alte Frau wie ich doch noch alles gut sein kann," erwiderte Alma schmunzelnd. "So schlecht war der Gedanke, als blinder Passagier zu gehen wohl doch nicht," meinte sie fröhlich. Auch Herr Nedden, der bei dem allen ziemlich hilflos dagestanden hatte, war voller Dank und überglücklich über das Kind. Als sie endlich an ihrem Ziel in Holland anlegten, war es für alle selbstverständlich, dass Alma die Wöchnerin weiter betreute. Der kleine Junge bekam den Namen Jan Hendrik, nach seinem Vater, der Jan hieß. 

Alma aber machte noch manche Rheintour mit, was sie sichtlich genoss. Für den kleinen Jan Hendrik, den sie sehr ins Herz geschlossen hatte, war sie nur die liebe Omi Alma. Es heißt zwar 'Alter schützt vor Torheit nicht,' aber manch­mal, wie hier zu sehen war, ist das manchmal auch ganz gut so. So spielt das Leben. 

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