Alfi
oder
Was du nicht willst, das man dir tu,...


Alfi hatte ein großes Problem mit seiner Größe. Das heißt, genauer gesagt, mit seiner geringen Größe. Vom Scheitel bis zur Sohle wurden nur ganze 1,51 m gemessen. Dazu kommt ein schmächtiger Körperbau. Keine hundert Pfund bringt er auf die Waage. Ich habe in meinem Zimmer auf der Wand einen Strich in 1,51 m Höhe angebracht und festgestellt, es ist wirklich eine geringe Höhe, besonders für ein menschliches Wesen männlichen Geschlechts.

Und hier fing Alfis Problem erst richtig an. Wo er auch mit Männern zusammenkam, war er immer der Kleinste. Und selbst die meistens Mädchen überragten ihn in der Regel um eine beträchtliche Anzahl von Zentimetern.

Das wäre schon Problem genug für einen jungen Mann. Aber schlimmer war, dass alle glaubten, dem 'niedlichen kleinen Jungen' - dabei war Alfi zur Zeit unserer Geschichte immerhin 22 Jahre alt - etwas Nettes und Humorvolles sagen zu müssen: Dass man seinen eigentlichen Namen Alfred in Alfi verniedlicht hatte, konnte man ja noch freundschaftlich deuten. Aber was musste er sonst ertragen: Na, Kleiner, Kurzer, Winzling, Zwerg, Abgesägter, Halblanger, Däumling und ähnliche 'Kosenamen' musste er sich immer wieder anhören. Aber das alles wäre für ihn noch zu verkraften gewesen, daran hatte er sich schon gewöhnt – soweit man sich an so etwas überhaupt gewöhnen kann - wenn Herbert nicht gewesen wäre. Herbert ist genau das Gegenstück von Alfi. Er misst volle 49 Zentimeter mehr als dieser. Ganze ausgewachsene 2 Meter ragt er in den Himmel, ist obendrein von muskulösen Körperbau und bringt 120 Kilo auf die Waage
Herbert ist 2 Jahre älter als Alfi. Sie kennen sich von Kind auf und wohnen nur wenige Straßen voneinander entfernt. So ist es unausbleiblich, dass da, wo junge Leute zusammentreffen, in der Disco, in der Kneipe nebenan, auf Parties bei Freunden oder ganz einfach auf der Straße, sich die beiden begegnen. Und jedesmal spielt sich dann das gleiche 'Ritual' ab: Herbert kommt strahlend auf Alfi zu, packt mit seinen beiden Pranken Alfis rechte Hand und schüttelt sie so anhaltend, dass Alfi Mühe hat, das Gleichgewicht zu bewahren. Dann fasst er ihn unter die Arme, hebt ihn hoch bis über seinen Kopf und ruft vernehmlich: „Na, Kleiner, wie gefällt dir die Luft da oben?“ Schließlich ergreift er Alfi am hinteren Hosenbund und läßt ihn, fast 2 Meter hoch, waagrecht über den Boden schweben um ihn dann endlich auf irgendeinen Vorsprung, einen Treppenabsatz, eine Fensterbank einen Tisch und im Freien manchmal sogar auf dem Dach eines Autos niederzulassen. Wobei Alfi im letzteren Fall oft Mühe hat, wieder unbeschadet den Erdboden zu erreichen. 

Er meint das sicherlich nicht böse und auch die anderen jungen Leute amüsieren sich und meinen, solch einen Scherz müsse Alfi schon hinnehmen. Alfi aber zitterte schon vor Wut und Empörung, wenn er nur an Herbert dachte. Hinzu kam, dass er vor kurzem ein Mädchen kennen gelernt hatte, das tatsächlich noch einige Zentimeter weniger maß als er. Er durfte sich gar nicht vorstellen, wie das sein würde, wenn sich die eben beschriebene Prozedur in ihrem Beisein abspielen würde. Und so wuchs in Alfi ein Racheplan und ich denke, in diesem Fall kann man das verstehen, auch wenn Rache keine menschliche Tugend ist. „Ich muss dem Herbert eins Auswischen, muss ihn so blamieren und in Schwierigkeiten bringen, dass er am eigenen Leibe einmal spürt wie das ist, wenn man gedemütigt und herabgesetzt wird.

Und, wie es scheint, macht nicht nur die Liebe erfinderisch, sondern auch das Vergeltungsverlangen. Zu Alfis Rechtfertigung muss aber gesagt werden, dass er Herbert nichts wirklich böses wünschte. 
Eines Tages suchte er die Dienststelle der Kripo auf. Er erklärte dort, dass er in einem Apartment Haus wohne, das ausschließlich von männlichen Bewohnern bevölkert werde und in dem es nicht immer ruhig und gesittet zugehe. Zudem habe man festgestellt, dass die Türen mit sehr einfachen Schlössern ausgerüstet seien. Mit jeden einfachen Dietrich sei die Türe zu öffnen. Nun sei ihm, Alfi, in letzter Zeit immer wieder Geld aus der verschlossenen Wohnung abhanden gekommen. 
Es müsse wohl so sein, dass ein Mitbewohner oder ein Bekannter, der um dieses Handikap weiß, in seiner Abwesenheit in die Wohnung eindringe und ihn bestehle. Die Beamten erklärten zunächst, dass sie ihm nicht helfen könnten. Aber vielleicht ertappe er den Dieb einmal inflagranti. Das aber, erklärte Alfi zu recht, sei doch sehr unwahrscheinlich. Aber er habe eine andere Idee. Aus Kriminalromanen wisse er, dass die Polizei über ein Mittel verfüge, mit dem man Gegenstände und auch Geldscheine so präparieren könne, dass jeder, der den Gegenstand oder in diesem konkreten Fall die Gelsdscheine berühre, unausweichlich auch mit diesem Mittel in Berührung komme, das nach einiger Zeit die Finger des Betreffenden intensiv blau färbe. Diese Färbung sei nur mit einem Mittel zu entfernen, über das nur die Polizei verfüge. Es bedurfte einiger Überredungskunst von Alfi, bis die Polizei bereit war, ihm etwas von diesem Mittel zu überlassen.

Hatte Alfi bis zu diesem Zeitpunkt sorgfältig jede mögliche Begegnung mit Herbert vermieden, suchte er sie jetzt ganz bewusst und zwei Tage später kam es in einer Seitenstraße zu einem Treffen der beiden und das geschilderte 'Ritual' spielte sich wieder einmal ab. Wieder schwebte Alfi, fest am hinteren Hosenbund gehalten, durch die Luft. Und dieses mal ließ Herbert sein Opfer auf ein an der Straße als Sperrmüll abgestelltes Sofa nieder, was dieser als besonders demütigend empfand. Herbert entfernte sich lachend und fröhlich pfeifend ohne noch einmal zu Alfi zurück zu blicken, während Alfi sich aus seiner misslichen Lage befreite und Herbert mit gespannter Aufmerksamkeit nachschaute.
Nachdem dieser etwa 50 Meter weit gegangen war, fing er an, seine Finger intensiv zu betrachten und begann schließlich, sie immer heftiger aneinander zu reiben. Schließlich holte er ein Taschentuch hervor, mit dessen Hilfe er die Prozedur offensichtlich ohne Erfolg fortsetzte. Dann nahm er noch seinen Speichel zu Hilfe, wurde sich dann aber wohl plötzlich seienes eigenartigen Verhaltens auf der etwas belebten Straße bewusst, schaute sich scheu um und steckte seine Hände tief in die Hosentaschen. Dann entschwand er Alfis Blicken. Wir aber haben die Möglichkeit, ihn weiter zu beobachten. Wenig später stellte er sich in eine Hausnische und begann die geschilderte Prozedur der Reinigung intensiv von neuen. Aber soviel er sich auch bemühte, die Färbung verlor nichts von ihrer Intensität. Man sah ihm seine Rat- und Verständnislosigkeit deutlich an. Mehrmals schüttelte er den Kopf, so wie man es tut, wenn man für etwas absolut keine Erklärung hat. Erst als er zu Hause war - er lebte allein - und selbst die Reinigung mit verschiedenen Reinigungsmitteln nicht zum Erfolg führte, dämmerte es ihm langsam: Dieser raffinierte Zwerg hatte ihn hereingelegt! Nirgend konnte er sich mehr sehen lassen. Alle Welt würde glauben, er sei ein Dieb. Die Polizei würde das gleiche vermuten. Und dass Alfi ihn entlasten würde, so nahm er an, wäre wohl kaum zu erwarten.

Auf seiner Arbeitsstelle meldete sich Herbert zunächst krank. Wenn er notgedrungen das Haus verlassen musste, vergrub er seine Hände in den Hosentaschen. Als er unbedingt im Supermarkt etwas einkaufen musste, zog er seine schwarzen Lederhandschuhe über, bei 25 Grad Plus im Schatten! Es war ihm schrecklich peinlich. Nach drei Tagen der Qual und Wut war ihm klar, dass er zur Polizei gehen musste, komme was da wolle. Als er dort erschien, wurde er schon mit einem wissenden Lächeln empfangen: Das ist also der Dieb, der den kleinen Burschen bestohlen hat. Alle seine Erklärungsversuche fruchteten nichts. „Wir werden diesen Alf befragen,“ erklärte der vernehmend Beamte schließlich. „So lange bleiben sie bei uns.“
Eigenartigerweise war Alfi an diesem Tag nicht erreichbar und Herbert verbrachte eine lange Nacht im Polizeigewahrsam. Es gelang ihm nicht, auch nur einen Augenblick zu schlafen. Zunächst kochte er vor Wut über 'diesen kleinen Mistkäfer.' 
Aber allmählich verflog sein Zorn mehr und mehr und ihm wurde klar, dass es sich bei Alfi nicht um einen reinen Racheakt nach dem Motto Auge um Auge und Zahn um Zahn gehandelt hat, sondern um einen Verzweiflungsschritt. Mit einem Male wurde ihm bewusst, was Alfi unter seinen Handlungen gelitten haben musste, wie sehr er gedemütigt worden war. War er doch selbst in diesen paar Tagen an die Grenzen seiner Kraft und seines psychischen Vermögens gekommen.

Als endlich der Morgen graute, wusste er: Das 'Ritual' zwischen Alfi und ihm würde sich nie mehr wiederholen. An diesem Tage erschien Alfi dann auch auf der Polizeistation, man hatte ihn eine Nachricht hinterlassen. Schnell war der Irrtum aufgeklärt. „Nein, Herbert hat mich nicht bestohlen. Mir ist in diesen Tagen auch nichts abhandengekommen und Herbert hätte das auch nie getan. Die ganze Sache ist meine Schuld.“ erklärte Alfi den Beamten. „Als ich die Geldscheine präparieren wollte, ist mir das Mittel heruntergefallen, gerade auf einige meiner Kleidungsstücke. Und da Herbert mich vor einigen Tagen scherzhaft hochgehoben hat“ - dabei schaute er Herbert fest in die Augen – „muss er wohl mit dem Mittel in Berührung gekommen sein. Alles andere ist leicht zu erklären.“ 

Was dann geschah, ist schnell erzählt. In der Folgezeit sah man Alfi und Herbert oft gemeinsam und alle wussten, dass sie dicke Freunde waren. Es störte sie auch nicht, dass man sie – allerdings nur in ihrer Abwesenheit – als Pat und Patachon bezeichnete. Dass sich das 'Ritual' tatsächlich nicht mehr wiederholte, braucht wohl kaum besonders erwähnt zu werden. Dass aber auch Alfi in Zukunft von allen nur noch mit seinem richtigen Namen angeredet wurde und niemand ihn mit seinen 'Kosenamen' belegte, dafür hatte Herbert schon gesorgt. 
Aus all dem kann man sehen, dass Rache nicht unbedingt süß ist, aber heilsam sein kann, wenn sie nicht aus Neid oder anderen niedrigen Beweggründen geübt wird, sondern aus der Gewissheit, jemanden eine Lehre erteilen zu müssen und wenn sie ohne Hass aber mit Kreativität und einem Schuss Humor inszeniert wird. Dann können aus Widersachern sogar Freunde werden. Alfi und Herbert nannten das ganze Geschehen, wenn sie darauf zu sprechen kamen, denn auch 'Das 'Lehrstück.' Denn gelernt hatten sie beide daraus. 

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